Täuschung? Unwahrheit? Oder nur Vernebelung?
Wer sind denn nun diese totalitären Antidemokraten? Replik eines demokratisch gesinnten Gutmenschen.
Der ehemalige grüne Bundeskongress-Abgeordnete Chris Veber wagte in der „Presse“( 3.8., „Verweigern wir uns den Hardcore-Ideologen!“) ein Experiment: Wie viele Pauschalverurteilungen passen in einen Kommentar? Darin wirft er jenen, die bisher „Gutmenschen“hießen, religiösen Eifer, Totalitarismus, „stalinistische“Denkungsart vor. Zunächst präsentiert er drei Meldungen – jemand beklage z. B., in Berlin stünden mehr männliche als weibliche Bäume – als Entrüstungsmaterial. Dabei bekennt er freimütig, dass er eine der Meldungen erfunden hat. Seltsam, dass jemand in einer Zeitung mit Fake-Fakten polemisiert.
Die Vorwürfe richten sich an „politisch korrekte, gendersensitive, postkolonialistische, BlackLives-Matter-, Fridays-for-FutureLinksgrüne“. Sie würden „Hetze“betreiben. So reproduziert er ein Feindbild mit jenen Stereotypen, denen man auch in der „Sezession“des rechtsextremen Publizisten Götz Kubitschek begegnet: Nichts darf man heute mehr sagen! Und: Wir stehen mächtigen, bösartigen Feinden gegenüber! „Wer es wagt, das auszusprechen, dessen Existenz wird vernichtet“– eine der charakteristischen HardcoreUnterstellungen.
Frei reden in freiem Medium
In der Tat wäre es arg, würde Chris Vebers Existenz aufgrund dieser Empörungssuada vernichtet. Doch sie wird das keineswegs. Seine Unfreiheit beklagend, äußert er sich frei in einem freien Medium. Wer fordert ernsthaft die „Abschaffung von Grenzen“? Ziemlich wenige! Wer will Andersdenkende „einem Schauprozess unterziehen“? Schauprozesse sehen anders aus. Nonchalant diskreditiert der Kommentar die antidiskriminatorische Basisarbeit jener Menschen, die er als „die Woken“bezeichnet, ein ihn berauschender Fachbegriff, vor dem ihm sichtlich gruselt. Der solchermaßen undifferenziert aufgebaute Feind, eine „fanatisierte
Minderheit“, wolle gar Unschuldsvermutung, Redefreiheit und gar Gedankenfreiheit abschaffen. Ein Hardcore-Vorwurf. Wer bitte will denn das alles, und wo?
Jene, die Veber als „zutiefst antidemokratisch“punziert, versuchen vielmehr, mit zivilgesellschaftlichen Mitteln einen zeitgemäßen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Regte ich etwa an, die Firma Mohrenbräu könnte auf ein rassistisches Logo verzichten, wäre das weniger Gefahr für die Demokratie als Ausdruck von Anstand. Denn nicht jene, die Gleichberechtigung und Sprachgenauigkeit einfordern, „rühren an den Fundamenten von Demokratie und Rechtsstaat“. In realis erschüttern autoritäre Möchtegernregenten und Machthaber unsere demokratischen Strukturen – die Protagonisten von Ibiza wie Viktor Orban;´ auch Donald Trump bewegt einiges. Vebers Übertreibungsparcours verdeckt Essenzielles, sein Popanz vernebelt zum Beispiel, dass die USA am Abgrund stehen und „von tatsächlichen Faschisten regiert“werden (Daniel Kehlmann).
Quellenkarg rührt der Hardcore-Kommentar metapherngrelle Europa- und USA-Bruchstücke wie Salz mit Zucker an. Er könnte kritisch bilanzieren, dass „Black Lives Matter“bei uns oft wie ein aufgesetzter Kulturtransfer wirkt. Stattdessen versteigt er sich zur Verallgemeinerung, Uni-Fächer wie „Postcolonial Studies“dienten der „Verbreitung offen rassistischer und sexistischer Ideologien“. Manchen Menschen scheint lang keine wissenschaftliche Arbeit untergekommen zu sein. Für sein Konstrukt ist Veber ein erfreutes Nicken des „Staatsmanns“Strache gewiss. Man könnte es direkt ins Programm einer neuen Rechtsbewegung copypasten. Aber haben wir nicht schon genug von denen? Martin Amanshauser, (* 1968), arbeitet als Autor und Reisejournalist u. a. „Amanshausers Album“im „Schaufenster“der „Presse“und veröffentlichte zuletzt das Buch „Es ist unangenehm im Sonnensystem“(2019).