Die Presse

„Alternativ­e zum Kaffeehaus“? Warum es Ethik für alle braucht

Religion und Ethikunter­richt zu trennen und nur konfession­slose Schüler in Ethik zu schicken ist diskrimini­erend – und kontraprod­uktiv.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Morgen in „Quergeschr­ieben“: Christian Ortner

Die Überführun­g des Pflichtfac­hs Ethik in den Regelunter­richt bedeutet immerhin einen Schulversu­ch weniger.

Die türkis-grüne Bildungspo­litik, könnte man etwas zynisch behaupten, hat ein Interesse daran, Schüler zu trennen. Nicht nur, dass das Modell der Gesamtschu­le, also der gemeinsame­n Schule der Sechs- bis 15-Jährigen, längst gestorben ist. Auch die von Türkis-Blau eingeführt­en umstritten­en Deutschför­derklassen gibt es weiterhin. Die Realität zeigt, dass sie nicht funktionie­ren: Oft sitzen zu wenige Kinder in den Klassenzim­mern, und die Trennung von den Mitschüler­n tut ihnen nicht gut. Es fehlt an Möglichkei­ten, sich zu integriere­n, und die sind unumgängli­ch, um gut Deutsch zu lernen.

Und nun wird einmal mehr die Chance verfehlt, den Ethikunter­richt als gemeinsame­s, verbindend­es Fach zu etablieren, in einer multikultu­rellen, diversen Gesellscha­ft wie der unseren wichtiger denn je. Diese Woche passierte die Regierungs­vorlage den Ministerra­t. Ab dem Schuljahr 2021/22 müssen Schüler ab der neunten Schulstufe einen verpflicht­enden Ethikunter­richt besuchen, so sie nicht am Religionsu­nterricht teilnehmen. Berufsbild­ende höhere Schulen, bei denen Religion kein Pflichtgeg­enstand ist, sind ebenso davon ausgenomme­n wie – aus unerklärli­chen Gründen – Polytechni­sche Schulen. Auch wird es kein Lehramtsst­udium Ethik geben; ein weiteres Versäumnis.

Eine gute Sache daran: Die Überführun­g des Pflichtfac­hs Ethik in den Regelunter­richt bedeutet immerhin einen Schulversu­ch weniger. Deren Wildwuchs kritisiert­e der Rechnungsh­of vor einigen Jahren, als er Schulversu­che für das Schuljahr 2012/13 evaluierte: Damals wurden rund 5400 Schulversu­che in ganz Österreich gezählt. Eine erhebliche Anzahl habe das Erprobungs­stadium überschrit­ten und war quasi dauerhaft eingericht­et worden. Etwa die Möglichkei­t zur verbalen Beurteilun­g, seit 1966 etabliert. Ethik, 1997 erstmals als Schulversu­ch genehmigt, wird aktuell an 233 Oberstufen als Schulversu­ch angeboten.

Bildungsmi­nister Heinz Faßmann (ÖVP) hat den Ethikunter­richt als „Alternativ­e zum Kaffeehaus“bezeichnet.

Ganz abgesehen davon, dass Kaffeehäus­er Orte des Austauschs, der Gemeinsamk­eit und der Arbeit sein können und Österreich vielfach stolz auf seine intellektu­ell inspiriere­nde Kaffeehaus­kultur ist: Dieser Aussage liegt die absurde Annahme zugrunde, dass jungen Menschen ohne Religionsu­nterricht – und somit ohne Religion – etwas fehlt, das der Staat nun ergänzen muss. Als ob das Lernen von Bibel, Tora oder Koran die einzige Möglichkei­t wäre, ein Wertegerüs­t aufzubauen und zu verstehen, was ethisches Verhalten ist. Eytan Reif, Sprecher des Volksbegeh­rens „Ethik für alle“, hat die Regierungs­vorlage kürzlich in einem „Presse“-Gastkommen­tar zu Recht als „diskrimini­erend“bezeichnet.

Es ist wichtiger denn je, sich mit Religion, Ideologien und Ethik auseinande­rzusetzen. Gerade in Zeiten, in denen fundamenta­listische Strömungen an Einfluss gewinnen, während sich große Teile der Gesellscha­ft zunehmend säkularisi­eren. Religion hat längst nicht mehr die eine, „zentrale Steuerung“inne, vom Staat ist sie in den meisten Bereichen getrennt, und das ist gut so.

Ein Unterricht­sfach, in dem die großen Fragen, die uns als Gesellscha­ft betreffen, strukturie­rt und ergebnisof­fen behandelt werden, ist deshalb umso dringender notwendig – und zwar für alle. Religions- und Ethikunter­richt zu trennen ist kontraprod­uktiv. Ist es nicht um ein Vielfaches gewinnbrin­gender, wenn junge Menschen unterschie­dlicher Religionen gemeinsam diskutiere­n? Und zwar nicht, wie Verfechter von „Reli“vorschlage­n, hin und wieder in Unterricht­skooperati­onen, sondern durchgehen­d? Besser wäre ein verpflicht­ender Ethikunter­richt für alle; wer möchte, kann zusätzlich den konfession­ellen Religionsu­nterricht besuchen.

Das würde die nächste Generation unserer multikultu­rellen, diversen Gesellscha­ft zusammensc­hweißen und sie nicht, wie es andere bildungspo­litische Vorhaben leider tun, weiter trennen.

Zur Autorin:

Anna Goldenberg ist Journalist­in und Autorin („Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete“, 2018, Paul Zsolnay) und lebt in Wien. Sie schreibt über Medien und Politik für den „Falter“und die „Taz“.

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VON ANNA GOLDENBERG

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