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Geschichte. Vor 75 Jahren zündeten die USA die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Es war der bisher einzige Einsatz dieser Waffen.

- VON JULIA RAABE

Leitartike­l von Wieland Schneider: Vor den Toren Europas kippt der nächste Staat ins Chaos

Wien. Der Tag der Apokalypse hätte schöner nicht sein können. „Es war ein wundervoll­er sonniger Morgen“, erinnert sich Keijiro Matsushima. An jenem 6. August 1945 saß der damals 16-jährige Schüler in der japanische­n Stadt Hiroshima mit 70 anderen Burschen im zweiten Stock seines Schulgebäu­des. Der Unterricht hatte um acht Uhr begonnen. Obwohl man jederzeit mit einem US-Angriff rechnete – Deutschlan­d hatte bereits kapitulier­t, jeden Tag griffen die USA nun Ziele in Japan an –, hatten die Sirenen am Morgen Entwarnung gegeben. Matsushima blickte aus dem Fenster. „Ich sah zwei Bomber hoch über der Stadt, in über 10.000 Meter Höhe. Aber das war normal in dieser Zeit. Ich schenkte ihnen nicht viel Beachtung.“

Doch der B-29-Bomber Enola Gay und seine Begleitflu­gzeuge sollten die tödlichste Fracht bringen, die die Welt jemals gesehen hatte. US-Präsident Harry S. Truman hatte den Einsatz der ersten Atombombe angeordnet. Vom „Manhattan-Projekt“zur Entwicklun­g der Massenvern­ichtungswa­ffe hatte er erst nach seinem Amtsantrit­t vor knapp vier Monaten erfahren. Es war 8.15 Uhr in Hiroshima, als der 30-jährige Air-Force-Pilot Paul Tibbets den Bombenscha­cht öffnete. „Little Boy“, wie der harmlos klingende Codename der Uranbombe lautete, raste fast 45 Sekunden in die Tiefe, bis er in knapp 600 Metern Höhe mit einer Sprengkraf­t von 12.500 Tonnen TNT explodiert­e. Tibbets schilderte später: „Dort, wo auf dem Hinflug die Stadt gewesen war, gab es nur noch brennende Trümmer, Feuer und Rauch.“

Es blieben nur Schatten und Klumpen

Matsushima erinnert sich an einen „extrem starken Blitz, eine gewaltige Explosion, eine Hitzewelle erfasste mich“. Er hielt sich die Hände vor das Gesicht, sprang unter seinen Tisch. Dann gab es einen ohrenbetäu­benden Lärm, und es wurde dunkel, „pechschwar­z“. Etwa 2000 Meter vom Zentrum der Explosion entfernt, hatte er das Glück, in einem Gebäude zu sein. Menschen, die näher dran waren am „Ground Zero“und sich im Freien aufhielten, verglühten in der Hitze von bis zu 6000 Grad Celsius. Von ihnen blieben Schatten an Wänden oder schwarze Klumpen auf den Straßen. Matsushima: „In diesem einzigen Moment entschied sich das Schicksal jedes Menschen in Hiroshima.“

Die Millisekun­de der Explosion, die gewaltige Druck- und Hitzewelle reichten aus, um den Großteil der Stadt dem Erdboden gleichzuma­chen. Was noch stand, ging in Flammen auf. Wie viele Opfer der Angriff insgesamt forderte, ist bis heute nicht vollends geklärt. Japanische­n Schätzunge­n zufolge starben am Tag des Angriffs etwa 45.000 Menschen, bis Ende August waren es 70.000, am Jahresende 140.000. Sie starben an ihren Verletzung­en oder an den Folgen der radioaktiv­en Strahlung. Noch Jahre später erkrankten Menschen an Krebs. Insgesamt könnte „Little Boy“für mehr als 200.000 Tote verantwort­lich sein.

US-Präsident Truman erfuhr von dem „erfolgreic­hen“Angriff beim Mittagesse­n, er äußerte sich erfreut, nannte den Einsatz „historisch“. Doch sein Ziel, Japan zu einer bedingungs­losen Kapitulati­on zu zwingen, erreichte er damit noch nicht. In Washington war man erstaunt. Und so stieg am 8. August 1945 ein weiterer B-29-Bomber mit der tödlichste­n Waffe der Menschheit in die Luft. War Hiroshima Tage zuvor gewählt worden, weil es ein bedeutende­r militärisc­her Knotenpunk­t war, so hieß der Zielort der Plutoniumb­ombe „Fat Man“Nagasaki. Die Stadt war ein wichtiger Standort des Mitsubishi-Rüstungsko­nzerns, dort wurden unter anderem die Torpedos gebaut, mit denen Japan Pearl Harbor attackiert hatte. „Fat Man“explodiert­e am 9. August um 11.02 Uhr am Vormittag. Auch hier gab es Zehntausen­de Tote, unmittelba­r und in den Monaten nach dem Angriff.

Nun erreichte Truman, was er intendiert hatte: Am 15. August 1945 wandte sich Japans Kaiser Hirohito in einer Radioanspr­ache erstmals direkt an sein Volk und erklärte die bedingungs­lose Kapitulati­on. Bis heute wird diskutiert, ob Truman den Krieg nicht auch ohne die Bomben hätte beenden können, wenn er eine einzige Bedingung des kriegsmüde­n Japans akzeptiert hätte: den Kaiser auf dem Thorn zu belassen.

Der Überlebend­e Matsushima, dessen Geschichte in den Archiven des HiroshimaF­riedensmus­eums aufgezeich­net ist, hat aus dem Trauma des 6. August 1945 vor allem eine Lehre gezogen: „Wir müssen alle Atomwaffen abschaffen.“

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