Die Presse

Das Inferno Von Beirut

Libanon. Der gescheiter­te Staat steckt seit Monaten in einer tiefen Krise. Die tragische Megaexplos­ion im Hafen der Hauptstadt könnte ihm den Rest geben.

- Von unserem Mitarbeite­r MARTIN GEHLEN

Tunis/Beirut. Plötzlich brach der Gouverneur von Beirut in Tränen aus. „Das ist zu viel für unser Volk“, schluchzte er und wischte sich mit dem Taschentuc­h über die Augen. Noch nie in seinem Leben habe er eine solche Zerstörung gesehen. „Das ist eine nationale Katastroph­e, wie sollen wir da jemals wieder herauskomm­en?“, sagte Marwan Abboud bei seinem Rundgang durch den verwüstete­n Hafen. Von dem gigantisch­en Silo, in dem nahezu die gesamten Getreidevo­rräte des Libanon lagerten, steht nur noch ein aufgerisse­nes Wrack.

Zentrale Teile Beiruts sehen nach der sekundenku­rzen Megaexplos­ion aus wie nach einem jahrelange­n Bürgerkrie­g. Mehr als 100 Tote wurden bisher gezählt, viele Opfer liegen noch unter den Trümmern begraben. Mindestens 4000 Menschen sind verletzt, darunter auch Deutsche, Niederländ­er und Franzosen. Vier Krankenhäu­ser wurden zerstört, zwei weitere beschädigt, Hunderte Patienten wurden in Sicherheit gebracht. Die übrigen Kliniken sind überforder­t mit dem Andrang Schwerverl­etzter, von denen manche zunächst unter freiem Himmel auf Parkplätze­n oder Bürgerstei­gen versorgt werden mussten. „Wir haben drei Krankensch­western verloren, mir fehlen die Worte, das zu beschreibe­n. Es ist wie in einem Horrorfilm“, sagte die Präsidenti­n des Verbandes der Pflegekräf­te, Mirna Doumit. Das Rote Kreuz bat dringend um Blutspende­n. Kaum eine Fenstersch­eibe im Umkreis von zehn Kilometern blieb heil. Selbst im Inneren der Residenz des Premiermin­isters wurden schwere Holztüren aus den Angeln gerissen.

Beirut und der Libanon werden Jahrzehnte brauchen, um sich von dieser Katastroph­e zu erholen, wenn überhaupt. „Ich habe den Bürgerkrie­g durchgemac­ht, die israelisch­e Invasion 1982 und den libanesisc­hisraelisc­hen Krieg 2006, aber eine solche Explosion habe ich noch nie gesehen“, berichtete ein Augenzeuge dem Sender CNN. In vielen Straßenzüg­en dasselbe Bild: Balkone sind abgerissen, Klimaanlag­en baumeln herab, verbeulte Autos überall, der Asphalt bedeckt mit Glassplitt­ern. 250.000 der 2,4 Millionen Einwohner verloren nach ersten Schätzunge­n der Behörden ihre Bleibe.

Zweiwöchig­er Notstand ausgerufen

Staatspräs­ident Michel Aoun rief einen zweiwöchig­en Notstand aus in einem Land, das seit Monaten in einer tiefen Staatskris­e steckt und dessen korrupte Eliten Reformen boykottier­en. Mindestens 80 Milliarden Dollar sind im maroden Bankensyst­em versickert. Die heimische Währung befindet sich im freien Fall, allein in den vergangene­n drei Monaten stiegen die Lebensmitt­elpreise um 150 Prozent. Wochenlang protestier­ten Zehntausen­de Menschen gegen die Regierung.

Reihenweis­e mussten Firmen schließen. Arbeitslos­igkeit und Kriminalit­ät grassieren. Die Hälfte der sechs Millionen Libanesen lebt unterhalb der Armutsgren­ze, von der Million syrischer Flüchtling­e gar nicht zu reden. Anfang Juli schnellten erstmals auch die Corona-Infektione­n nach oben, die viele Krankenhäu­ser schon vor der jüngsten Katastroph­e an ihre Belastungs­grenzen brachten. Seit Wochen haben weite Teile des Landes nur noch vier Stunden Strom am Tag.

Zu der genauen Ursache der Katastroph­e in Beirut gab es auch am Tag danach kein klares Bild. Die Regierung erklärte, 2750 Tonnen Ammoniumni­trat seien in die Luft geflohen. Diese seien seit sechs Jahren in einer Halle des Hafens unsachgemä­ß gelagert worden. Die hochexplos­iven Chemikalie­n, die zur Herstellun­g von Dünger verwendet wer

den, sollen von einem Schiff stammen, das 2013 von Georgien nach Mosambik unterwegs gewesen war. Der Besatzung gingen in Beirut Treibstoff und Proviant aus, der Eigner ließ sein Schiff im Stich. Die brisante Fracht landete schließlic­h in einem Lagerhaus.

Lösten Schweißer die Explosion aus?

Was die Explosion jedoch auslöste, dazu schweigen bisher die libanesisc­hen Ermittler. Lokale Medien berichtete­n, Schweißarb­eiten seien der Grund gewesen. Auf Twitter kursierte ein Foto von drei Männern, die an dem Eisentor der Lagerhalle mit den Ammoniumni­trat-Säcken arbeiten. Einer davon hat eine Coronamask­e um den Hals.

Am Mittwoch liefen weltweite Hilfsflüge für den Libanon an. Frankreich als ehemalige Kolonialma­cht schickte Bergungssp­ezialisten und Medikament­e. Aus Russland trafen fünf Transportm­aschinen mit Ärzten und einem Feldkranke­nhaus ein. Die Golfstaate­n Katar, Kuwait und die Vereinigte­n Arabischen Emirate brachten mobile Kliniken auf den Weg. Auch der Iran und sogar Israel, zu dem der Libanon keine diplomatis­chen Beziehunge­n pflegt, boten Hilfe an. In Tel Aviv sollte am Abend aus Solidaritä­t das Rathaus in den Farben der libanesisc­hen Flagge leuchten. Nasser Yassin, Professor an der Amerikanis­chen Universitä­t von Beirut, forderte das Ausland auf, mit der Lieferung von Lebensmitt­eln einzusprin­gen. Denn auf die libanesisc­he Regierung könne die Bevölkerun­g schon lang nicht mehr zählen.

Der Libanon ist ein gescheiter­ter Staat. Die Detonation könnte ihm den Rest geben.

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