Wollen und Können sind manchmal zu wenig
Jugendliche in Wiens Neuen Mittelschulen haben höhere Ziele, als man ihnen gemeinhin nachsagt. Viele wollen maturieren und studieren. Doch Wunsch und Wirklichkeit klaffen – auch systembedingt – mitunter weit auseinander.
Gymnasium oder Neue Mittelschule (NMS)? Als eines der wenigen westeuropäischen Länder stellt Österreich die erste Weiche in der Bildungslaufbahn bereits nach der vierten Schulstufe: In der Volksschule wird sortiert, wem der Weg zur Matura und zu einem späteren Studium formal unkompliziert ermöglicht wird und wem nicht.
Erst Mittelschule, dann Matura?
Doch wer letzteren Weg wählt, hat nicht zwangsläufig bescheidene Bildung sam bit ionen. Das zeigen die ersten Ergebnisse einer auf fünf Jahre angelegten Längs schnitt studie des Instituts für Soziologie der Universität Wien rund um Jörg Flecker und Veronika Wöhrer. So würde jede zweite NMS-Schülerin am liebsten ein Studium abschließen, ebenso 40 Prozent der Burschen. Die Matura als höchsten Abschluss strebt immer noch ein Drittel der Befragten an.
Die kürzlich als Buch erschienene Zusammenfassung der Ergebnisse zur ersten Erhebungswelle( Wege in die Zukunft, V& R, 332 Seiten, 52 Euro) räumt mit einer Reihe von Vorurteilen gegenüber der Neuen Mittelschule auf. Für das Projekt begleiteten die Soziologinnen und Soziologen Wiener Jugendliche zwischen 13 und 16 Jahren ab der letzten Klasse N MS und führtenu.a.107n ar rativ-bio grafische Interviews sowie 3000 Online befragungen durch.
Der Hintergrund: In der Bundeshauptstadt hat die NMS keinen guten Ruf. Sie gilt vielen als Restoder gar als Problemschule. Fünf Jahre ist es her, dass alle Hauptschulen in Neue Mittelschulen umgewandelt wurden. Mit Herbst steht die nächste Änderung bevor: Aus der Neuen Mittelschule wird die Mittels chule,ind er die Anschluss fähigkeit an dieAHS(Allgem einbildende höhere Schule) in der Beurteilung auf den zwei Niveaus „Standard“bzw. „Standard AHS“noch deutlicher werden soll. Damit einher geht das Privileg, bei entsprechender Leistung ohne Aufnahmeprüfung eine höhere Schule besuchen zu können.
Große Pläne, große Ängste
Die Gründe, warum Kinder aus der Volksschule in die NMS wechseln, sind vielfältig: Die Bandbreite reicht von schlechten Noten, geringen Lernschwächen und kürzerem Schulweg über Bildungseinstellungen der Eltern und mangelndes Wissen um das Schulsystem bis hin zu Geschwistern, Freunden und Freundinnen, die ebenfalls eine bestimmte Schule besuchen, sowie attraktiven Zusatzangeboten. Die österreichweiten Übertrittszahlen von der NMS in höhere Schulen zeigen, dass nur etwa neun Prozent der Jugendlichen in eine AHS wechseln, aber 35 Prozent in eine BHS (Berufsbildende höhere Schule). Der Übergang zwischen Schule und Beruf bzw. weiterführender Schule zählt zu einer der bedeutsamsten Phasen im Lebenslauf junger Menschen. Die Soziologinnen und Soziologen der Uni Wien interessiert nun, welche Ziele Jugendliche in dieser Zeit verfolgen und wie sie durch sozioökonomische Faktoren wie soziale Klasse, Geschlecht oder Einwanderungserfahrungen geprägt werden. Einen Schwerpunkt legen sie dabei auf den Migrationsaspekt. Immerhin haben lediglich 16 Prozent der Befragten keine (familiäre) Einwanderungsgeschichte, 26 Prozent wurden selbst nicht in Österreich geboren, bei 39 Prozent wurden beide Eltern im Ausland geboren.
Die Stimmung unter den Jugendlichen mit Blick auf die Zukunft ist gespalten. Grundsätzlich halten zwei Drittel es für realistisch, den Wunschberuf zu erreichen. 42 Prozent ist es dabei wichtig, so bald wie möglich Geld zu verdienen. Obwohl die Mehrheit der Befragten ihren Traumberuf in
Reichweite sieht, machen sich 48 Prozent immer bzw. oft Sorgen darüber, keine Arbeit zu finden.
Freundeskreis spricht Deutsch
Ein bedeutsames Fazit aus der Studie ist, dass es sich bei NMS-Schülerinnen und -Schülern in Wien entgegen der landläufigen Meinung um eine heterogene Gruppe handelt und diese aus ganz verschiedenen sozioökonomischen Kontexten stammen. Beispielsweise hat jedes fünfte Elternteil ein abgeschlossenes Studium. Auch die Charakterisierung als Problemgruppe im Bereich der Sprachkompetenz trifft nicht in dem oft suggerierten Ausmaß zu: Zwar unterhält sich fast die Hälfte der Befragten mit den Eltern nicht auf Deutsch, doch bei über 90 Prozent ist das die Sprache der Wahl im Freundeskreis.
Jugendliche mit zumindest einem akademischen Elternteil wollen zu 62 Prozent ebenfalls studieren. Interessant: Jene Befragten ohne Einwanderungsgeschichte haben vergleichsweise niedrigere idealistische Bildungswünsche. Sie streben nur zu 35 Prozent einen Hochschulabschluss an, während Jugendliche der ersten Migrationsgeneration diesen zu 53 Prozent anpeilen. Doch Wunsch und Wirklichkeit decken sich nicht immer. Das offenbaren die konkreten Schulanmeldungen, v. a. für Migrantinnen und Migranten. Insgesamt würden 26 Prozent – wenn sie es sich aussuchen könnten – einen höheren Bildungsabschluss anstreben, als sie mit der geplanten Nachfolgeschule erreichen können. Das Elternhaus spielt dabei sowohl als Ressource als auch als Einschränkung eine Rolle.
Die Ausgangspositionen am Ende der NMS sind also höchst unterschiedlich. Die Exklusionsrisken ergeben sich dabei, so das Forschungsteam, aus einem komplexen Zusammenspiel von sozialer Herkunft, Geschlecht und Einwanderungsgeschichte.