Oppositionsführerin flüchtete unter Druck
Belarus. Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja meldet sich aus Litauen. Sie verließ ihr Land offenbar nicht freiwillig. Für die Demonstranten ein Dämpfer, der die Wut noch vergrößern könnte.
Belarus. Die Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja hat in einer Videobotschaft die Demonstranten dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben. In dem Video, das sie noch vor ihrer Ausreise nach Litauen aufgenommen haben soll, liest sie eine Botschaft vor: „Ich will kein Blut und keine Gewalt.“Das Video soll unter Druck der belarussischen Behörden entstanden sein. Litauens Außenminister, Linas Linkevicius,ˇ sagte am Dienstag, dass sie ihr Heimatland unter der Androhung einer Inhaftierung habe verlassen müssen.
Moskau/Minsk. Mit der Ausreise der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja verliert die belarussische Bürgerbewegung ihr prominentestes Gesicht. Tichanowskaja hält sich, wie am Dienstag bekannt wurde, in Litauen auf. In den Tagen vor der Präsidentenwahl gingen die Fotos der 37-Jährigen um die Welt. Tichanowskaja wurde als Kandidatin der Opposition zur Wahl zugelassen. Hinter ihr hatten sich drei Wahlstäbe vereinigt. Sie wurde zum unerwarteten Symbol für die von vielen gewünschte Veränderung. Nach dem von Fälschungsvorwürfen begleiteten Wahlgang am Sonntag beanspruchte sie den Sieg für sich.
Ein paar Tage später hält sich nur noch eine Vertreterin der Vereinigten Opposition in Minsk auf: Maria Kolesnikowa, Chefin des Stabs des verhafteten Viktor Babariko. Veronika Zepkalo, Ehefrau des ebenfalls nicht registrierten Kandidaten Valerij Zepkalo, hatte aus
Angst vor Verhaftung schon vor der Wahl das Land verlassen. All das zeigt, wie ernst es das offizielle Minsk mit der Niederschlagung der Demokratiebewegung meint.
Rund um den Verbleib von Tichanowskaja hatte sich am Montag ein Krimi entfaltet. Sie war mit ihrem Anwalt am frühen Nachmittag in die Zentrale Wahlkommission gegangen, um Beschwerde gegen das offizielle Wahlergebnis einzureichen, das Alexander Lukaschenko als Sieger auswies. Tichanowskajas Stab hatte Beweise für Wahlfälschungen gesammelt. Nach mehreren Stunden in dem Gebäude verlor sich ihre Spur. In den Abendstunden konnte kein Kontakt zu ihr hergestellt werden. Der belarussische KGB lancierte wiederum das Gerücht, dass auf Tichanowskaja ein Attentat verübt werden sollte.
„Sehr schwere Entscheidung“
Die Quereinsteigerin meldet sich am Dienstag mit einer Videobotschaft, nachdem der litauische Außenminister Linas Linkeviciusˇ auf Twitter über ihre sichere Ankunft in Litauen berichtet hatte. In Litauen halten sich die beiden Kinder der 37-Jährigen auf, die sie schon während der Wahlkampagne in das EU-Land gebracht hat. Den Tränen nahe sagt sie, dass sie vor einer „sehr schweren Entscheidung“gestanden sei. „Ich wünsche niemandem, dass er vor der Wahl steht, vor der ich gestanden bin. Passt auf euch auf .... Kinder sind das Wichtigste in unserem Leben.“
Bisher gibt es nur Vermutungen, was genau sich zutrug. Eine Annahme ist, dass Tichanowskaja vom KGB schwer unter Druck gesetzt wurde. Sie selbst hatte noch ein paar Stunden zuvor bezeugt, im Land bleiben zu wollen. Eine Mitstreiterin sagte, die Stabschefin der 37-Jährigen, Maria Moros, habe sich in der Gewalt der Behörden befunden. Tichanowskaja sei im Fall ihrer Ausreise Moros’ Freilassung zugesichert worden. „Swetlana hatte keine Wahl.“Eine zweite Videobotschaft, in der Tichanowskaja Worte emotionslos von einem Zettel abliest, wurde offenbar noch in Minsk auf Druck der Behörden aufgenommen. Darin ruft sie die Belarussen auf, die Proteste zu beenden.
Die mutmaßlich erzwungene Ausreise ist ein Dämpfer für die Protestbewegung, könnte aber die Wut auf die Sicherheitskräfte weiter antreiben. Auch bisher agierten die Demonstranten unabhängig von der politischen Opposition, die sich nach der Wahl auf die legale Anfechtung des Wahlergebnisses konzentrierte. Einem für Dienstag ausgerufenen Streik schlossen sich mehrere Betriebe an.
In der zweiten Protestnacht war es der Polizei und Spezialeinsatzkräften nicht gelungen, die Lage unter Kontrolle zu bekommen. 2000 Menschen wurden festgenommen. In Minsk blockierten Demonstranten mehrere Straßen und errichteten Barrikaden. Ein Mann wurde getötet. Nach den Bildern der ersten Nacht, wo friedliche Demonstranten schwer verprügelt wurden, ist die Bereitschaft zur Gewaltanwendung auf Seiten der Protestierenden gestiegen.
Koordination über Telegram
Für die Behörden erschwerend sind derzeit zwei Dinge: Die Proteste flammen gleichzeitig in mehreren Städten auf und sind nicht, wie 2010, auf Minsk beschränkt. Die Demonstranten haben keinen Anführer und sind sehr beweglich. Die Koordination läuft dezentral über Messenger-Apps. Die russische App Telegram hat sich laut ihrem Gründer Pavel Durow gegen die Gelüste der belarussischen Zensoren speziell abgesichert.
Über Telegram-Kanäle werden Informationen über Treffpunkte kommuniziert. Zentral ist der Kanal Nexta, der von einem 22-jährigen belarussischen Studenten in Polen betrieben wird. Er erreichte dieser Tage die Marke von einer Million Abonnenten. Nexta veröffentlicht Demo-Infos, Hilfsaufrufe und Videos von Augenzeugen. Die Sicherheitskräfte stellt die Schnelligkeit und Spontaneität derzeit vor Herausforderungen. Die Frage ist, ob Cleverness ausreicht, um es mit dem weitaus stärkeren Gegner aufzunehmen. Der Minsker Analyst Artyom Shraibman zeigt sich skeptisch, ob die Bewegung genügend Ausdauer hat. „Wenn die Opposition nicht einen bedeutsamen Erfolg erringt, dann wird der Protest fertig gemacht.“