Leitartikel von Christian Ultsch
Es ist clever von Joe Biden, eine Zentristin wie Kamala Harris als VizePräsidentschaftskandidatin aufzustellen. Doch verloren hat Trump noch nicht.
Mit
der Nominierung von Kamala Harris als Vize-Präsidentschaftskandidatin hat Joe Biden auf Nummer sicher gesetzt. Die 55-jährige US-Senatorin aus Kalifornien schreckt niemanden ab. Die Ex-Staatsanwältin ist keine linke Träumerin, sondern eine moderate Pragmatikerin. Ideologisch tickt sie ähnlich wie Joe Biden, ergänzt den 77-Jährigen aber gewissermaßen. Die Tochter einer Krebsforscherin aus Indien und eines Wirtschaftsprofessors aus Jamaika soll etwas mehr jugendlichen Elan in den Wahlkampf der US-Demokraten bringen, vor allem aber die nach dem Tod von George Floyd aufgewühlte afroamerikanische Bevölkerung ansprechen.
Für die immer lauter werdende Schar der progressiven Linken in der Partei stellt sie kein Angebot dar. Doch diese Gruppe, so das Kalkül Bidens, würde ohnehin alle außer Donald Trump wählen. Und gewonnen wird die Wahl am 3. November in der Mitte. Die Mehrheit der US-Bevölkerung will von linken Fantasien wie der finanziellen Aushungerung oder gar Auflösung der Polizei ohnehin nichts hören.
Biden hat sich lange Zeit gelassen für die Kür seiner Stellvertreterin. Er hat am Ende nicht danebengegriffen. Doch entscheiden wird Kamala Harris die US-Präsidentschaftswahl nicht. Wenn Amtsinhaber Trump sie nun sarkastisch als Traumgegnerin verhöhnt, verfehlt er das Ziel. Denn mit ihr wird er kaum zu tun haben.
Sie hat einen Fernsehauftritt, der Beachtung finden wird: ihr Duell mit Vizepräsident Mike Pence. Doch auch da wird sich das Interesse in Grenzen halten. Als besonders talentierte Wahlkämpferin ist sie bisher ohnehin nicht aufgefallen. Harris schied nach einem ersten Hype um ihre Person sehr früh aus dem Vorwahlkampf der US-Demokraten aus, schon im Dezember, bevor es in Iowa überhaupt losging. Ihr fehlte nicht nur das Geld, sondern vor allem auch die Zustimmung.
Doch diese Präsidentschaftswahl findet unter besonderen Corona-Bedingungen statt. Für Biden und Harris ist es vielleicht gar kein Nachteil, dass der Wahlkampf vor allem online und im TV, aber kaum vor großen Versammlungen über die Bühne geht. Das verringert die rhetorische Pannengefahr, die beim Spitzenkandidaten der US-Demokraten erheblich ist. In den vergangenen Monaten konnte er sich zurücklehnen und die Fehler seines Konkurrenten für sich arbeiten lassen. Amtsinhaber Donald Trump hat die Coronakrise bisher desaströs gemanagt. Das Virus hat die USA wie kaum ein anderes Land der Welt getroffen. Der Absturz der Wirtschaft trifft Trump ins Mark, er hat damit das stärkste Argument für seine Wiederwahl verloren. Dementsprechend sehen die Umfragen aus. Biden liegt bundesweit acht bis zehn Prozentpunkte vorn und zum Teil auch in bisherigen weißen Hochburgen Trumps deutlich voran.
Doch bis zum 3. November – oder auch danach – kann noch viel passieren. Niemand sollte die Gabe der USDemokraten, eine Wahl zu vermasseln, unterschätzen. Und auch US-Demoskopen können irren, wie sie beim jüngsten Mal eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben. Hillary Clinton lag 2016 in Umfragen ziemlich klar vorn und vergeigte es trotzdem. Ein neues Thema, das Corona überschattet, kann die Stimmung im Land noch drehen. Das muss nicht unbedingt inszeniert sein, kann aus heiterem Himmel kommen, aber es fällt jedenfalls auf, wie eifrig Trump an der Eskalationsschraube mit China dreht.
Im Wahlkampf und in einem polarisierten Umfeld ist Donald Trump in seinem Element. Es wäre voreilig, ihn abzuschreiben. Er wird um sein Amt kämpfen. Und wenn es knapp wird, auch nach dem 3. November, indem er Ergebnisse der Briefwahl infrage stellt, die coronabedingt heuer sicher in größerem Ausmaß eingesetzt wird. Auch dafür bereitet Trump mit Polemiken gegen die US-Post schon das Feld.
Vor allem aber wird der 74-Jährige im Ü-70-Duell mit dem 77-jährigen Biden darauf setzen, dass er immer noch mehr Energie ausstrahlt als sein Konkurrent. Im Studio wird Biden dem republikanischen Präsidenten und erfahrenen TV-Unterhalter allein gegenüberstehen müssen. Kamala Harris wird ihm da nicht helfen können.