Britische Wirtschaft im freien Fall
Coronakrise. Ein Konjunktureinbruch von über 20 Prozent stürzt das Land in die Rezession.
London. Nach der höchsten Zahl an Corona-Todesopfern in Europa verzeichnet Großbritannien einen neuen traurigen Rekord: Nach den gestern, Mittwoch, von der nationalen Statistikbehörde (ONS) veröffentlichten Daten verzeichnete das Land mit einem Rückgang von 20,4 Prozent im zweiten Quartal den stärksten Konjunktureinbruch aller führenden Volkswirtschaften. Schatzkanzler Rishi Sunak hielt sich da nicht lang mit Beschönigungen auf: „Wir haben gesagt, dass uns harte Zeiten drohen, und die heutigen Zahlen zeigen, dass wir mitten in harten Zeiten sind.“
Ein Vergleich illustriert, wie massiv die britische Wirtschaft von der Krise getroffen wurde: Spanien verzeichnete im zweiten Quartal ein Minus von 18,5 Prozent, Frankreich von 13,8, Deutschland von 10,1 und die USA von 9,5. Der britische Niedergang war laut ONS der „tiefste Fall seit Beginn der Aufzeichnungen“. Betrachtet man das erste Halbjahr 2020, liegt Spanien mit −22,7 vor den Briten mit −22,1 und Frankreich mit −18,9 Prozent.
Nachdem im ersten Quartal die britische Wirtschaft bereits um 1,3 Prozent schrumpfte, ist das Land nun offiziell in der Rezession, erstmals seit 2009. Wie dramatisch das Ausmaß ist, zeigt ein weiterer Vergleich: Mit Ende Juni 2020 fiel die britische Wirtschaftsleistung auf den Stand von Juni 2003. Das heißt, 17 Jahre Wachstum waren ausgelöscht.
Die dramatischen Zahlen erklärten Experten mit der hohen Abhängigkeit vom Dienstleistungssektor, von dem direkt oder indirekt 80 Prozent des britischen BIPs geschaffen werden. Nach Verhängung eines weitreichenden
Lockdown Ende März kamen weite Teile des Einzelhandels sowie die Gastronomie und der Tourismus praktisch zum Erliegen. Gleichzeitig verzichteten verunsicherte Bürger auf nicht unbedingt notwendige Ausgaben: Die Statistiker verzeichneten einen Rückgang des Privatkonsums, der zwei Drittel des BIPs ausmacht, um 23,1 Prozent.
Hunderttausende Jobs weg
Die Angst der Bürger hat handfeste Gründe: Kein Tag vergeht ohne Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt, zuletzt meldete die traditionsreiche Kaufhauskette Debenhams die Streichung von 2500 Jobs. Seit Inkrafttreten der Corona-Maßnahmen wurden 750.000 Arbeitskräfte von Firmen abgemeldet. Die Bank of England rechnet bis Jahresende mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit von 3,9 Prozent auf 7,5 Prozent. Noch zahlt die Regierung für zehn Millionen Arbeitnehmer bis zu 80 Prozent des Gehalts, aber im Oktober soll diese staatliche Stützungsmaßnahme auslaufen.
Schatzkanzler Sunak bekräftigte gestern trotz der Konjunkturdaten das Festhalten an seinem Zeitplan: Man könne die bisherigen Hilfen „nicht unbegrenzt durchhalten“. Schon jetzt hat der britische Staat 34 Milliarden Pfund für Gehaltsfortzahlungen aufgewendet. „Wir sollten uns nicht vormachen, dass absolut jeder in seinen bisherigen Job zurückkehren wird können“, warnte Sunak.
Nicht nur Privathaushalte stehen bei den Ausgaben auf der Bremse, auch Unternehmen. Ihre Investitionen gingen im zweiten Quartal um 31,4 Prozent zurück, auch das ist ein Rekordwert. Nach einer Umfrage der Bank of England haben die meisten Betriebe Investitionspläne entweder völlig gestrichen oder auf das absolute Minimum reduziert. In der Automobilindustrie fiel die Produktion auf den tiefsten Stand seit 1954.
Erholung im dritten Quartal
In aller Düsternis gibt es aber auch erste Zeichen der Hoffnung. Seit drei Monaten wächst die Wirtschaft wieder: Auf 1,8 Prozent im Mai folgten 8,7 Prozent im Juni. Seit April hat die Wirtschaft damit um 11,3 Prozent zugelegt, liegt aber immer noch um 17,2 Prozent unter dem Stand vom Februar. Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen und Staatshilfen – etwa zur Ankurbelung der Gastronomie – sollten in den kommenden Wochen weiteren Auftrieb bringen. Dean Turner, Volkswirt von UBS Wealth Management, sagt: „Wir sehen eine starke Pendelbewegung zurück und erwarten, dass zurückgehaltene Konsumnachfrage im dritten Quartal zu einer starken Erholung führen wird.“Dennoch warnt die Notenbank, dass Großbritannien erst zum Jahresende 2021 den Rückgang durch die Coronakrise aufgeholt haben wird.
Und dazu muss es gelingen, eine zweite Welle der Epidemie zu vermeiden. Die britische Regierung will jedoch mit Schulanfang im September so weit wie möglich zur Normalität zurückkehren. Die Staatsfinanzen sind angespannt wie noch nie. James Smith, Forschungsdirektor des Thinktanks Resolution Foundation, meint: „Die heutigen Zahlen zeigen, dass die Herausforderungen für die britische Wirtschaft größer sein werden als für die meisten anderen.“