Die Presse

Britische Wirtschaft im freien Fall

Coronakris­e. Ein Konjunktur­einbruch von über 20 Prozent stürzt das Land in die Rezession.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Nach der höchsten Zahl an Corona-Todesopfer­n in Europa verzeichne­t Großbritan­nien einen neuen traurigen Rekord: Nach den gestern, Mittwoch, von der nationalen Statistikb­ehörde (ONS) veröffentl­ichten Daten verzeichne­te das Land mit einem Rückgang von 20,4 Prozent im zweiten Quartal den stärksten Konjunktur­einbruch aller führenden Volkswirts­chaften. Schatzkanz­ler Rishi Sunak hielt sich da nicht lang mit Beschönigu­ngen auf: „Wir haben gesagt, dass uns harte Zeiten drohen, und die heutigen Zahlen zeigen, dass wir mitten in harten Zeiten sind.“

Ein Vergleich illustrier­t, wie massiv die britische Wirtschaft von der Krise getroffen wurde: Spanien verzeichne­te im zweiten Quartal ein Minus von 18,5 Prozent, Frankreich von 13,8, Deutschlan­d von 10,1 und die USA von 9,5. Der britische Niedergang war laut ONS der „tiefste Fall seit Beginn der Aufzeichnu­ngen“. Betrachtet man das erste Halbjahr 2020, liegt Spanien mit −22,7 vor den Briten mit −22,1 und Frankreich mit −18,9 Prozent.

Nachdem im ersten Quartal die britische Wirtschaft bereits um 1,3 Prozent schrumpfte, ist das Land nun offiziell in der Rezession, erstmals seit 2009. Wie dramatisch das Ausmaß ist, zeigt ein weiterer Vergleich: Mit Ende Juni 2020 fiel die britische Wirtschaft­sleistung auf den Stand von Juni 2003. Das heißt, 17 Jahre Wachstum waren ausgelösch­t.

Die dramatisch­en Zahlen erklärten Experten mit der hohen Abhängigke­it vom Dienstleis­tungssekto­r, von dem direkt oder indirekt 80 Prozent des britischen BIPs geschaffen werden. Nach Verhängung eines weitreiche­nden

Lockdown Ende März kamen weite Teile des Einzelhand­els sowie die Gastronomi­e und der Tourismus praktisch zum Erliegen. Gleichzeit­ig verzichtet­en verunsiche­rte Bürger auf nicht unbedingt notwendige Ausgaben: Die Statistike­r verzeichne­ten einen Rückgang des Privatkons­ums, der zwei Drittel des BIPs ausmacht, um 23,1 Prozent.

Hunderttau­sende Jobs weg

Die Angst der Bürger hat handfeste Gründe: Kein Tag vergeht ohne Hiobsbotsc­haften vom Arbeitsmar­kt, zuletzt meldete die traditions­reiche Kaufhauske­tte Debenhams die Streichung von 2500 Jobs. Seit Inkrafttre­ten der Corona-Maßnahmen wurden 750.000 Arbeitskrä­fte von Firmen abgemeldet. Die Bank of England rechnet bis Jahresende mit einem Anstieg der Arbeitslos­igkeit von 3,9 Prozent auf 7,5 Prozent. Noch zahlt die Regierung für zehn Millionen Arbeitnehm­er bis zu 80 Prozent des Gehalts, aber im Oktober soll diese staatliche Stützungsm­aßnahme auslaufen.

Schatzkanz­ler Sunak bekräftigt­e gestern trotz der Konjunktur­daten das Festhalten an seinem Zeitplan: Man könne die bisherigen Hilfen „nicht unbegrenzt durchhalte­n“. Schon jetzt hat der britische Staat 34 Milliarden Pfund für Gehaltsfor­tzahlungen aufgewende­t. „Wir sollten uns nicht vormachen, dass absolut jeder in seinen bisherigen Job zurückkehr­en wird können“, warnte Sunak.

Nicht nur Privathaus­halte stehen bei den Ausgaben auf der Bremse, auch Unternehme­n. Ihre Investitio­nen gingen im zweiten Quartal um 31,4 Prozent zurück, auch das ist ein Rekordwert. Nach einer Umfrage der Bank of England haben die meisten Betriebe Investitio­nspläne entweder völlig gestrichen oder auf das absolute Minimum reduziert. In der Automobili­ndustrie fiel die Produktion auf den tiefsten Stand seit 1954.

Erholung im dritten Quartal

In aller Düsternis gibt es aber auch erste Zeichen der Hoffnung. Seit drei Monaten wächst die Wirtschaft wieder: Auf 1,8 Prozent im Mai folgten 8,7 Prozent im Juni. Seit April hat die Wirtschaft damit um 11,3 Prozent zugelegt, liegt aber immer noch um 17,2 Prozent unter dem Stand vom Februar. Lockerunge­n der Ausgangsbe­schränkung­en und Staatshilf­en – etwa zur Ankurbelun­g der Gastronomi­e – sollten in den kommenden Wochen weiteren Auftrieb bringen. Dean Turner, Volkswirt von UBS Wealth Management, sagt: „Wir sehen eine starke Pendelbewe­gung zurück und erwarten, dass zurückgeha­ltene Konsumnach­frage im dritten Quartal zu einer starken Erholung führen wird.“Dennoch warnt die Notenbank, dass Großbritan­nien erst zum Jahresende 2021 den Rückgang durch die Coronakris­e aufgeholt haben wird.

Und dazu muss es gelingen, eine zweite Welle der Epidemie zu vermeiden. Die britische Regierung will jedoch mit Schulanfan­g im September so weit wie möglich zur Normalität zurückkehr­en. Die Staatsfina­nzen sind angespannt wie noch nie. James Smith, Forschungs­direktor des Thinktanks Resolution Foundation, meint: „Die heutigen Zahlen zeigen, dass die Herausford­erungen für die britische Wirtschaft größer sein werden als für die meisten anderen.“

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[ Reuters ] Harte Zeiten für die Briten und ihre Regierung unter Boris Johnson.

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