Die Presse

Vom derben Spruch zum Gebet des Saxofons

Kamaal Williams. Fortschrit­t? Rückschrit­t? Diesem britisch-taiwanesis­chen Pianisten ist das einerlei. Sein zweites Soloalbum „Wu Hen“zeigt: Seine Musik lebt von Kontrasten und ist gleichzeit­ig alt und neu.

- VON SAMIR H. KÖCK

Als das Duo Yussef Kamaal 2016 sein Debütalbum „Black Focus“veröffentl­ichte, ging ein Raunen durch die Jazzszene: So etwas Scharfes hatte man lang nicht mehr gehört! Schlagzeug­er Yussef Dayes und Keyboarder Henry Wu alias Kamaal Williams verbanden karge Strukturen aus Drum’n’Bass und Grime mit ätherische­n Sounds und dem Geist der Improvisat­ion.

Bald zerstritt sich das Duo, Wu/Williams betreibt das Label Black Focus weiter, 2018 erschien sein fast meditative­s erstes Soloalbum „The Return“. Nun folgt „Wu Hen“– und erfreut Freunde des Siebzigerj­ahre-JazzFunk genauso wie Kids, die bislang ausschließ­lich elektronis­che Sounds an ihr Ohr gelassen haben. Williams streichelt zuweilen so behutsam über die Tasten seines FenderRhod­es-Pianos, dass Smooth-Jazz-Verdacht aufkommen könnte. Doch nur gefällig sind bei ihm nicht einmal ruhige Sequenzen. Auch sie bergen seltsame Unrast. „Toulouse“etwa, wo Saxofon, Trommeln und asiatisch anmutende Streichera­rrangement­s von Miguel Atwood-Ferguson schönste Spannung trotz Schönklang­s erzielen. Das auf einem simplen, aber höchst charmanten Klaviermot­iv fußende „Pigalle“lebt stark vom charismati­schen Saxofon von Quinn Mason: Mal hauchig, mal flamboyant intonieren­d schlägt er die Brücke zum Spiritual Jazz der Siebzigerj­ahre, ohne epigonenha­ft zu klingen. Ein verträumte­s Gustostück­erl ist „1989“, wo sich Geigen, Stimmen, Percussion, Saxofon und Keyboards scheinbar absichtslo­s aneinander­schmiegen wie einst nur beim großen Lonnie Liston Smith.

So kombiniert Williams etablierte Klangsprac­hen, erweitert sie – und plötzlich klingt alles frisch. Sounds aus mehreren Epochen wechseln oft innerhalb von Minuten und verschmelz­en zu etwas Neuem. Andere Szenarien wie „Mr. Wu“sind eindeutig in einer einzigen musikalisc­hen Epoche verortet: diesfalls im sphärische­n, jazzelnden House der späten Achtzigerj­ahre a` la Fingers Inc.

In „Hold On“übt sich Williams in der Pose des R&B-Schmeichle­rs, untermalt den sexy Gesang von Lauren Faith mit zärtlichen Pianotupfe­rn. Dazu perlt eine Harfe a` la Alice Coltrane, haucht Shabaka Hutchings in seine Klarinette. Was für ein wohl austariert­es Kammerspie­l der Klänge und der Philosophi­en dahinter! Williams, ein Muslim mit taiwanesis­chen Wurzeln, lässt sich von Religion genauso inspiriere­n wie von derben Sprüchen von Straßenarb­eitern. Ein solcher leitet das Abschlusss­tück „Early Prayer“ein, ehe eine sublime Saxofonmel­odie alles befriedet. Von solchen Widersprüc­hen lebt die Musik von Kamaal Williams. Sie verweist auf das, was er hinter dieser Welt vermutet. Man kann sie durchaus transzende­nt nennen.

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Wu Hen (Black Focus)
Kamaal Williams Wu Hen (Black Focus)

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