Die undisziplinierte, zornige Nation
Die Wochen des strengen Corona-Shutdowns verbrachte Günter Bischof in Österreich. Seine Wahlheimat USA war Anfang Mai ein anderes Land als Anfang März, als er sie verlassen hatte. Beobachtungen aus einem Krisenland.
Als ich die USA Anfang März verließ, um eine Gastprofessur an der Universität Innsbruck anzutreten, war es ein anderes Land als das Amerika Ende Mai, als ich zurückkam. Anfang März waren auf den Flughäfen des Landes noch keine Covid-19-Maßnahmen zu bemerken, obwohl das Virus im post-Mardi-Gras-New-Orleans (wie in New York) schon zu grassieren begann. Präsident Donald Trump schlich sich von Krise zu Krise (China, Syrien, Iran) – irgendwie hatte sich das Land auf seine tägliche Twitterei und Lügnerei eingestellt. Und wartete auf seine Abwahl im November.
Seit meiner Rückkehr ist das Land von multiplen Krisen gebeutelt. Nach der zu frühen Öffnung des Landes und dem undisziplinierten Verhalten von Teilen der Bevölkerung bei nationalen Feiertagen wie dem Memorial Day (Anfang Juni) und dem Independence Day am 4. Juli, erlebt vor allem der Süden einen rasanten Anstieg von Covid-19-Fällen. Und das ist nicht die befürchtete „zweite Welle“, sondern das Nicht-in-den-GriffBekommen der ersten Welle. Die Bundesstaaten Florida, Texas und Arizona – geführt von die Krise verharmlosenden republikanischen Gouverneuren – erleben besonders rasante Anstiege der Viruszahlen, sowie auch das von einem Demokraten regierte Kalifornien. Individualistisch gesinnte Amerikaner lassen sich nicht gern in ihrem persönlichen Lebensstil von ihrer Regierung Vorschreibungen machen.
Lächerliche Twitter-Angriffe
Das Hauptproblem ist das führungsschwache Weiße Haus. Präsident Trump hat wochenlang keine Pressekonferenzen zum Krisenfortgang gehalten (wie wir dies in Österreich während der Krise täglich sahen); er widerspricht auch regelmäßig seinen wissenschaftlichen Beratern im Weißen Haus, Anthony Fauci und Deborah Birx; und macht sie sogar lächerlich mit seinen Twitter-Angriffen. Zudem hat er Wahlkampfveranstaltungen gegen den Rat aller Experten in Oklahoma, Arizona und North Dakota abgehalten, bei denen sich Leute im Stab seiner Mitarbeiter angesteckt haben. Er weigerte sich lang öffentlich einen Gesichtsschutz zu tragen. Er wollte keine Tests durchführen lassen, da Tests nur die Zahlen von Coronafällen in die Höhe treiben würden. Als „disorganisation and denial“(Desorganisation und Abstreiten) bezeichnet die „New York Times“seinen Regierungsstil jüngst.
Zudem bestand Trump darauf, dass die Schulen im ganzen Land öffnen sollten. Da traf er mehr und mehr auf Widerstand. Schulen werden in den USA von lokalen „Schuldistrikten“geführt. Die größten Schuldistrikte des Landes in Los Angeles und Chicago gehen auf Distanz und wollen nur digitalen Unterricht durchführen. New York City will die Schüler auch ins Klassenzimmer holen. In Florida protestiert die Lehrergewerkschaft. Man hört immer wieder, dass sich ältere Lehrer pensionieren lassen, da ihnen die Ansteckungsgefahr im Schulbetrieb zu groß erscheint. Meine Frau ist Lehrerin und besteht darauf, diesen Herbst von zu Hause aus zu unterrichten. In Bundesstaaten mit republikanischen Gouverneuren wie Georgia wurden die Schulen diese Woche geöffnet (ohne Mundschutz) und prompt treten Coronafälle auf, was gleich wieder zur Schließung führt.
Radikale Richtungsänderung
Vor zwei Wochen begann der Präsident zurückzurudern – er hielt gleich mehrere Pressekonferenzen (ohne seine wissenschaftlichen Berater) ab, empfahl das Tragen von Gesichtsschutz und stellte es den Schulen frei, den Unterricht im Klassenzimmer zu eröffnen, wenn sich die Lage entspannt hätte und es für Kinder und Lehrer sicher sein würde. Grosso modo meinte er, die Lage „werde sich verschlechtern, bevor sie besser werde würde“. Politische Beobachter mutmaßten, die schlechten Umfrage-Ergebnisse im Vergleich zu seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden hätten ihn zu dieser radikalen Richtungsänderung gezwungen. Doch kurz darauf redete er den Virus und seine Ansteckungsgefahr wieder klein.
Parallel zur Coronakrise erlebten die Vereinigten Staaten seit Mai Rassenunruhen und Proteste, wie man sie seit der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren nicht mehr gesehen hat. Nach dem brutalen Mord des Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis – und ähnlicher, von Rassismus geprägter Polizeigewalt gegenüber Schwarzen in anderen Bundesstaaten – explodierte das Land bei täglichen Protesten. In Portland (Oregon), einem der liberalsten Bundesstaaten der USA, wird seit gut zwei Monaten ununterbrochen demonstriert. Dabei ist aufgefallen, dass ältere und junge Weiße mit Afroamerikanern protestierten. Der Präsident spielte dabei nicht die traditionelle Rolle seiner Amtsvorgänger, die Bevölkerung in Krisenzeiten als oberster Vermittler zu beruhigen. Im Gegenteil, er macht sich als „Law and Order“Präsident stark, und schickte eine Woche lang föderale Einheiten (quasi Bundespolizisten) aus Washington in Städte wie Portland. Die gewaltbereiten Protestierenden liefern seit dem Abzug der Bundespolizisten der lokalen Polizei allnächtlich Gefechte, wobei es regelmäßig zu Verhaftungen kommt. Der Präsident verunglimpfte die Protestierenden als „professionelle Anti-fas“, tat sie also als „linke“Demagogen und Chaoten ab und ordnete sie dem Lager der Demokraten zu. Es wird angenommen, dass „professionelle“Unruhestifter lokale Proteste unterwandern und radikalisieren.
Welle der Gewalt
Jüngst ist eine Welle der Gewalt in manchen amerikanischen Großstädten ausgebrochen – und wahrscheinlich auf den Zorn der Bevölkerung auf die Polizei und den Krieg zwischen Gangs in den heißen Sommermonaten zurückzuführen. Der Präsident antwortet auch darauf mit der Drohung, weitere Bundespolizei-Einheiten in die Städte zu schicken. Die Demokratischen Bürgermeister von Chicago, Portland, St. Louis, New York lehnen solche Kontingente aus Washington als „nicht verfassungskonform“strikt ab. Lori Lightfoot, die Bürgermeisterin von Chicago, meint dazu, Trump wolle mit dieser Politik des starken Mannes nur von seiner Führungsschwäche in der Coronakrise ablenken. Der Präsident möchte mit solchen starken Gesten bei seinen Stammwählern punkten. Trump denkt mehr an seine Wiederwahl als die Befriedung des Landes und spaltet die Vereinigten Staaten damit politisch tiefer als das sonst der Fall wäre.
Was den Österreichern und Europäern erlaubt hat, die Krise zu meistern, indem sich die Bevölkerung strikt an die Regierungsvorgaben gehalten hat, macht es hier in den USA schwierig, die Infektionszahlen zu reduzieren – ein Teil der Amerikaner weigert sich strikt, Gesichtsschutz zu tragen bzw. social distancing zu praktizieren. In einem konservativen Vorort von New Orleans gab es sogar Proteste gegen die Maskenpflicht. Das Tragen von Gesichtsschutz ist zum Politikum geworden.