Die Presse

Millionen Europäer vor Schuldenfa­lle

Analyse. Schon vor der Coronakris­e hätte fast ein Drittel der europäisch­en Familien keine unerwartet­en Kosten stemmen können. Ab Herbst wird die Zahl hochschnel­len.

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Brüssel/Wien. In Europa zeichnen sich weitere wirtschaft­liche Turbulenze­n ab. Angesichts des geplanten Endes der beispiello­sen Hilfsmaßna­hmen für Arbeitnehm­er während der Coronaviru­s-Pandemie laufen Millionen von privaten Haushalten Gefahr, in eine Schuldenfa­lle zu geraten. Schuldenbe­rater für Einzelpers­onen warnen vor einem starken Anstieg von Familien, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Selbst in Sparernati­onen wie Deutschlan­d und Österreich beginnen die Bürger, sich Sorgen zu machen.

„In einigen Bundesländ­ern verzeichne­n wir im Vergleich zum Vorjahr bereits deutlich mehr Anfragen von Ratsuchend­en in den Schuldenbe­ratungen“, sagte Maria Kemmetmüll­er, Vizechefin der ASB Schuldnerb­eratungen GmbH, der Dachorgani­sation der anerkannte­n Schuldenbe­ratungen in Österreich. „Ab dem Herbst erwarten wir dann überall einen Anstieg bei den Beratungen um bis zu 40 Prozent.“

Solche Probleme sind eine von vielen Bedrohunge­n für die wirtschaft­liche Erholung. Sie untergrabe­n die Konsumausg­aben, und einige Studien signalisie­ren ein Risiko einer breiteren finanziell­en Instabilit­ät, wenn die Kreditausf­älle zunehmen. Das Europäisch­e Netzwerk Schuldnerb­eratung, das versucht, Überschuld­ungen zu bekämpfen, schätzt, dass bereits zehn Prozent der Haushalte in der EU ein Problem haben, und diese Zahl wird sich noch mindestens verdoppeln, erwartet Berater Kosta Skliris.

Problem bestand schon vorher

Eine Studie des Thinktanks Bruegel in Brüssel ergab, dass fast ein Drittel der europäisch­en Haushalte der Meinung war, dass sie bereits vor dieser Krise keine unerwartet­en Kosten hätten stemmen können. Südeuropäi­sche Nationen haben laut der Studie „finanziell schwächere“Familien.

Die Denkschmie­de Resolution Foundation sagte in diesem Monat, dass 44 Prozent der britischen Haushalte vor der Krise ihre Rechnungen nicht hätten bezahlen können, wenn sie über einen Zeitraum von drei Monaten ihre Haupteinna­hmequelle verloren hätten.

Der Verlust von Lohneinkom­men ist die Hauptursac­he für finanziell­e Probleme, sodass die volle Wucht der Pandemie bisher durch Kurzarbeit­sprogramme in Schach gehalten wurde. Viele Regierunge­n planen jedoch, diese Unterstütz­ung zu reduzieren.

Oft mangelnde Beratung

In ihrem jüngsten Finanzstab­ilitätsber­icht im Mai bezeichnet­e die Europäisch­e Zentralban­k die Tragfähigk­eit der Verschuldu­ng der privaten Haushalte als eines der Risken. Eine vorübergeh­ende Entlastung von Kreditrück­zahlungen könnte dies abschwäche­n, jedoch nur kurzfristi­g.

Die Lösung des Problems wird durch unzureiche­nde Infrastruk­tur wie Entschuldu­ngsagentur­en vereitelt. In vielen Ländern werden Schuldner Privatanwä­lten, nicht regulierte­n Beratern oder Organisati­onen ohne Know-how überlassen. (Bloomberg/red.)

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