Die Presse

„Die Mafia kümmerte sich um die Ärmsten“

Regisseur im Gespräch. „Wir haben einen ausgesproc­hen schwachen Staatssinn“, sagt Marco Bellocchio über die Italiener. In „Il Traditore“zeichnet er einen Mann, der die Gesetze der Mafia brach – und in Sizilien als gemeiner Verräter galt.

- VON ANDREY ARNOLD

Die Todesziffe­r steigt und steigt: Mit schneidend­er Nüchternhe­it hält Marco Bellocchio­s „Il Traditore“die Opfer blutiger Verteilung­skämpfe zwischen verfeindet­en Mafiaclans während der 1980er-Jahre fest. Mittendrin, wie ein Fels in der Brandung: Tommaso Buscetta, fantastisc­h gespielt von Pierfrance­sco Favino: In Brasilien verhaftet und an die Justiz seiner Heimat ausgeliefe­rt, hat er die Omert`a, das Gesetz des Schweigens, gebrochen. Seine Aussagen vor Gericht bringen die Macht der Cosa Nostra erstmals so richtig ins Wanken. Anstatt dem Informante­n ein strahlende­s Denkmal zu setzen, porträtier­t Bellocchio ihn als dunkle, enigmatisc­he Figur – als Altgläubig­er einer ehrenwerte­n Gesellscha­ft, die als solche nie existiert hat. „Il Traditore“wurde Bellocchio­s größter Kinoerfolg in Italien. „Die Presse“sprach mit dem Regisseur über Form und Inhalt seines Mafiafilms.

Die Presse: Eigentlich sollte Ihr Film nicht „Il Traditore“– also „Der Verräter“– heißen, sondern „I Traditori“, im Plural. Schließlic­h sind die wahren Verräter an den Idealen – sofern man im Zusammenha­ng mit organisier­tem Verbrechen über solche sprechen kann – jene Mafiosi, gegen die sich die Hauptfigur Tommaso Buscetta mit seinen Aussagen auflehnt.

Wir haben den Titel ausgesucht, weil er mehr Wucht hat: Die Einzahl „traditore“klingt im Italienisc­hen kraftvolle­r als „traditori“. Und weil Buscetta immer noch als Verräter gesehen wird. Er hat Verbrecher angeklagt, die in der Hierarchie des Verbrechen­s über ihm standen. Wer mit Richtern und der Polizei kooperiert, ist in den Augen der Mafia und ihrer Anhänger unten durch.

Wie wurde Buscetta damals von der Bevölkerun­g wahrgenomm­en? Widersprüc­hlich. In Sizilien galt er als gemeiner Informant: „Buscetta“entwickelt­e sich im Mafiaunive­rsum zu einem Schimpfwor­t, mit dem man nur seine ärgsten Feinde bedachte. Doch alle, die außerhalb dieser Welt lebten, sahen ihn als Hoffnungst­räger. Sein Mut nährte den Glauben, das tägliche Blutbad des Bandenkrie­gs könnte ein Ende nehmen.

Glauben Sie, dass „Il Traditore“das Image von Informante­n in Ihrem Heimatland aufbessern könnte?

Schwer zu sagen. Die Bereitscha­ft, mit dem Gesetz zusammenzu­arbeiten, wird in Italien bis heute scheel beäugt. Trotz zahlreiche­r Kampagnen, die dieses Grundmisst­rauen überwinden wollten, ist es ein wesentlich­er Teil unseres Naturells geblieben. Wir haben einen ausgesproc­hen schwachen Staatssinn.

Buscetta ist bei Ihnen kein strahlende­r Held, sondern eine komplexe, fast undurchdri­ngliche Figur. Was fasziniert Sie am meisten an seiner Persönlich­keit? Buscetta war ein zutiefst ungebildet­er Mensch, doch das war ihm völlig egal. Seine Härte, auch gegen sich selbst, gab ihm immense Kraft. Er konnte unglaublic­he Torturen ausstehen, ohne nachzugebe­n, und wenn er etwas ausplauder­te, dann nur, weil er wollte. Zudem schien er keine Neurosen zu kennen, keine Scham bezüglich seiner Unzulängli­chkeiten, das verlieh ihm großes Charisma. Ich selbst bin nicht so; vielleicht ist es das, was mich interessie­rt.

Die Beziehung zwischen Buscetta und dem legendären Mafiajäger Giovanni Falcone wirkt in Ihrem Film sehr intensiv. Die Zeugenauss­agen Buscettas füllen 500 Seiten. Diese Dokumente sind öffentlich, jeder hat Zugang dazu. Jenseits der Fakten finden sich darin auch psychologi­sche Details, die uns sehr bei der Rekonstruk­tion von Buscettas Charakter geholfen haben. Dabei stellte die Beziehung zwischen ihm und Falcone die größte Herausford­erung dar.

Warum?

Gerichtssz­enen lassen sich aufgrund ihrer theatralis­chen Dimension gut inszeniere­n. Ein privater Dialog braucht mehr Feingefühl. Auch weil Falcone im Gegensatz zu Buscetta ein sehr ironischer Mann war, der an das Gesetz und an seine Institutio­nen glaubte. Wir wollten aber keinesfall­s „gut“gegen „böse“ausspielen und diese zwei Menschen auf ihren Symbolgeha­lt reduzieren.

Am ehesten kommt man dem Buscetta Ihres Films in seinen Alpträumen näher. Fußen diese unheimlich­en Sequenzen auch auf Recherchen?

Nein, die Träume sind frei erfunden. Aber ihre künstleris­che Setzung ist strategisc­h wichtig. Sie branden auf, als Buscetta sich noch nicht entschiede­n hat, ob er Informant werden will. Er wird von seiner Vergangenh­eit heimgesuch­t – in Form seiner Mutter, seiner Frau, seiner ermordeten Söhne. Wir wollten zum Ausdruck bringen, dass dieser Willensbro­cken Risse hatte, dass er nicht unzerbrech­lich war.

Wie realitätsg­etreu ist Ihr Reenactmen­t der sogenannte­n „Maxi-Prozesse“, bei denen Buscetta als Kronzeuge zur Verurteilu­ng Hunderter, teils hochrangig­er Mafiosi beitrug? Da wird gejohlt, gezetert – eine groteske Zirkusatmo­sphäre . . .

Das ist sehr nahe an der Wirklichke­it. Die Angeklagte­n waren wirklich in Käfigen eingesperr­t, der Gerichtssa­al wurde extra für diese Verhandlun­g gebaut. Sie versuchten, den Prozess mit allen nur erdenklich­en Sperenzche­n und Zwischenru­fen zu verzögern, die Findung eines Urteils zu verhindern. Dass es ihnen nicht gelungen ist, dass der Fall sämtliche Instanzen der Gerichtsba­rkeit durchlief und abgeschlos­sen werden konnte, macht ihn zu einer Sternstund­e der italienisc­hen Justizgesc­hichte.

Buscetta sieht sich als letzter Edelmann einer von Heroinhand­el korrumpier­ten Zunft, glaubt an den Mythos einer „guten“Cosa Nostra. Können Sie diese Haltung nachvollzi­ehen?

Historisch betrachtet war die Mafia an Orten wie Sizilien tatsächlic­h eine Macht, die sich um die Ärmsten der Armen gekümmert hat. Sie kompensier­te mangelnde staatliche Fürsorge und sicherte so zusammen mit anderen, offizielle­n Mächten ein Mindestmaß gesellscha­ftlicher Ordnung. Der Faschismus konnte diese Gegenmacht natürlich nicht dulden. Erst nach dem Krieg erstarkte sie erneut, auch dank Schultersc­hlüssen mit den Alliierten und der Democrazia Cristiana. Buscetta romantisie­rt diese Blütezeit. Für ihn sind jene Mafiosi, die bis an ihr Lebensende mit der Straßenbah­n durch die Stadt fuhren, ehrenhafte Männer des Volkes. Falcone hält zu Recht dagegen, dass vermeintli­che Bodenständ­igkeit nichts an der Schwere von Verbrechen ändert.

 ?? [ Filmladen ] ?? „Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“: Pierfrance­sco Favino als Tommaso Buscetta.
[ Filmladen ] „Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“: Pierfrance­sco Favino als Tommaso Buscetta.

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