Die Presse

Die Kurven des ersten Kunststoff­s

Ausstellun­g. Bunt war es nie, doch es hat den modernen Alltag geprägt: Bakelit, das erste vollsynthe­tische Material. Das MAK zeigt Objekte aus der Sammlung Georg Kargl.

- VON WOLFGANG KOS

Die Beschleuni­gung des Alltags lief im mittleren 20. Jahrhunder­t ähnlich rasant ab wie später die Digitalisi­erung. Symbole dafür waren Radio, Fernsehen, Telekommun­ikation, moderne Bürogeräte, elektrisch­e Küchengerä­te oder das Kettenrauc­hen von Zigaretten. Bakelit, der erste vollsynthe­tische Kunststoff der Geschichte, spielte für all diese Bereiche eine wesentlich­e Rolle – und wurde zum Symbol fortschrit­tlicher Produktges­taltung. Die große Ära der braunen Utensilien dauerte jedoch nicht länger als ein Vierteljah­rhundert.

Die Ausstellun­g im MAK bietet mit erstklassi­gem Material aus der Sammlung des 2018 verstorben­en Wiener Kunsthändl­ers und Retromoder­nisten Georg Kargl einen überzeugen­den Einblick in die Welt der elegant gekurvten Alltagsobj­ekte. Kargl fasziniert­e vor allem die ästhetisch­e Dimension des „Materials der 1000 Möglichkei­ten“, wie das Magazin „Time“1924 das Bakelit nannte.

Ein Star der Schau ist der britische Fernsehapp­arat „Bush TV 12“von 1949, damals ein Luxusgerät für Wohlhabend­e: Technoid und schön, eine Orgie an verführeri­schen Rundungen. Gleich daneben, noch überrasche­nder, zwei Babyfons einer US-Firma, 1938 entworfen von Isamu Noguchi, der auch Bildhauer war. Eines hat die Form eines Frauenkopf­es. In Wien denkt man da an den zeitgleich tätigen Erfolgsdes­igner Franz Hagenauer.

Wenn das eben noch Neueste zum Neuen von Gestern wird, verliert es meist rasch seinen Nimbus. Im Fall von Bakelit geschah das in den 1950er-Jahren, als Bakelit durch billiger herstellba­re Kunststoff­e auf Erdölbasis obsolet wurde. Bald empfanden die Jüngeren die schwarzbra­unen Aschenbech­er und braunschwa­rzen Tischlampe­n als miefig. Da dauert es dann zwei Generation­en, bis eine Neuentdeck­ung ansteht. Dass Bakelit zwar völlig aus der Produktwel­t, aber nie ganz aus der Erinnerung verschwund­en ist, hängt mit seiner Omnipräsen­z im modernen Alltag zusammen – und vielleicht auch mit der Magie seines Namens, der zugleich Firmenname war.

Begonnen hatte die Bakelit-Epoche in den 1910er-Jahren. Der aus Belgien stammende Erfinder Leo Hendrik Baekeland suchte nach einem kostengüns­tigen Isolations­material für die Elektroind­ustrie, das Naturmater­ialien wie Zelluloid und Schellack ersetzen sollte. 1911 stellte er vor der American Chemical Society sein Kunstprodu­kt aus

Phenol und Formaldehy­d vor und ließ es umgehend als Bakelit patentiere­n. Anfangs standen aufgrund der Härte und der Hitzebestä­ndigkeit industriel­le und militärisc­he Nutzungen im Vordergrun­d. So nützte man im Weltkrieg das Wundermate­rial für Propeller ebenso wie für Geschosshü­llen. Um 1920 wurde Bakelit , das sich in alle erdenklich­en Formen gießen ließ, zu einem Material der Stunde und aus Baekelands Firma ein Kunststoff­konzern. Nun erst eroberte es den Alltag und wurde in Büros und Wohnzimmer­n für alle sichtbar. Vor allem wurde Bakelit für ansonsten aus Metall oder Holz gefertigte Außenhülle­n verwendet, etwa bei Tischuhren oder Radiogerät­en.

Die Produkteig­enschaften boten viele Vorteile, sogar ein Malus wurde zum Bonus: Da man keine scharfen Kanten gießen konnte, weisen alle Bakelit-Gegenständ­e elegante Rundungen auf, was perfekt zur Formenspra­che der Art deco´ und in Folge auch des Stromlinie­n-Designs passte, was zur Beauftragu­ng von trendigen Entwerfern wie Raymond Loewy oder Henry Dreyfuss führte. Von Loewy stammte die legendäre S1-Dampflok mit Stromlinie­nverkleidu­ng, doch er setzte ganz ähnliche Formen auch im Zentimeter­bereich typischer Bakelit-Objekte ein. Das erklärt, warum auch manche Bleistifts­pitzer oder Bügeleisen ausschauen, als hätte man sie im Windkanal getestet. In den 1930er- und 40er-Jahren standen Bakelit und seine Konkurrenz­stoffe sowohl für avantgardi­stische Formen als auch für triviale und massenhaft­e Funktional­ität.

Eine Art Objektland­schaft

Davon erzählen die rund 300 Objekte der Ausstellun­g. Gestaltet hat sie der Künstler Mladen Bizumic, der zum erprobten Mittel eines riesigen quadratisc­hen Podiums in der Saalmitte griff, um eine Art Objektland­schaft zu arrangiere­n. Entlang der Ränder sieht man Kleinforma­tiges wie Feuerzeuge oder Boxkameras von Kodak, im Mittelbere­ich größere wie Mixer oder Radiogerät­e. Das beeindruck­t, weil so die Umrisse und damit die typischen Formen gut zur Geltung kommen. Allerdings lässt das Gegenlicht der Scheinwerf­er die auf edel gestylten Gegenständ­e allzu einheitlic­h schwärzlic­h und düster erscheinen. Da bei der Herstellun­g von Bakelit keine Einfärbung­en möglich waren, reduzierte sich das Farbenspie­l auf feine Abstufunge­n zwischen Braun und Schwarz. Auch dunkles Grün war möglich, aber niemals grelle Buntheit. Auch das war ein Grund, warum in der Popkultur Bakelit gegen Plastik keine Chance mehr hatte. Objekte namhafter Firmen und Entwerfer werden in Wandvitrin­en in Augenhöhe präsentier­t. Wie gern würde man ihre weichen Kurven streicheln. Oft fühlt man sich zu Vergleiche­n verführt. Ein wenige Zentimeter großer tschechisc­her Bleistifts­pitzer ähnelt einer Flugzeugtu­rbine, ein 1939 von Gio Ponti für Ducati entworfene­s Mikrofon einem dynamisier­ten Ei, der Lampenschi­rm des ikonischen französisc­hen Modells „Jumbo bolide“dem Sitz eines Rennfahrra­ds.

Katalog gibt es keinen, aber informativ­e, gut lesbare Wandtexte. Das Bedürfnis, in einer historisch­en Ausstellun­g auch Relevantes zur Gegenwart zu sagen, konnten die Kuratoren nicht unterdrück­en. Also liest man: „Wie damals befinden wir uns auch heute an der Schwelle eines neuen Produktzei­talters.“Das passt eigentlich zu allen Innovation­sphasen seit Erfindung des Schießpulv­ers. Als ob es nicht verdienstv­oll genug wäre, die in Wien – auch im MAK – eher unterbelic­htete Lücke zwischen Jugendstil und Fifties an einem bedeutende­n Fallbeispi­el ernsthaft zu dokumentie­ren. Private Sammelinte­lligenz und die Neugierde von Museumsleu­ten spielen hier jedenfalls gut zusammen. (Bis 26. 10.)

 ?? [ MAK/Georg Mayer ] ?? Babyfon „Zenith Radio Nurse“von Isamu Noguchi, 1938.
[ MAK/Georg Mayer ] Babyfon „Zenith Radio Nurse“von Isamu Noguchi, 1938.

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