Die Presse

Potenzial der OSZE ist noch lang nicht ausgeschöp­ft

Replik. Die OSZE befindet sich in einer anhaltende­n Identitäts­krise. Diese spiegelt aber auch die systemisch­en Sicherheit­sprobleme in Europa.

- VON ALEXANDER LUKASHEVIC­H

Die OSZE und das europäisch­e Sicherheit­ssystem durchleben schwierige Zeiten. Die derzeitige Situation, in der die Teilnehmer­staaten die Kontinuitä­t der Arbeit des Generalsek­retärs, des Direktors des Büros für demokratis­che Institutio­nen und Menschenre­chte, des Hohen Kommissars für nationale Minderheit­en und des Beauftragt­en für die Freiheit der Medien nicht gewährleis­ten konnten, hat nicht nur personelle, sondern auch tief liegende institutio­nelle Probleme aufgedeckt.

Insbesonde­re handelt es sich um eine anhaltende Identitäts­krise der OSZE, die bisher nicht in der Lage war, ihre Nische im europäisch­en Sicherheit­ssystem zu finden, obwohl sie sowohl über ein Mandat in Form von grundlegen­den, auf höchster Ebene angenommen­en Dokumenten als auch über alle Möglichkei­ten für dessen Umsetzung verfügt. Die OSZE bleibt im

Grunde genommen ein „Diskussion­sklub“, der noch keine rechtliche­n Formen angenommen hat.

Die Krise der OSZE ( wie sie auch Botschafte­r Christian Strohal in seinem „Presse“-Gastkommen­tar benennt, 1. 8. 2020) ist eine Widerspieg­elung der gemeinsame­n systemisch­en Sicherheit­sprobleme in Europa. Diese gibt es nicht erst seit heute. Seit den 1950er-Jahren war eine der wichtigste­n außenpolit­ischen Ideen der sowjetisch­en Führung die Schaffung eines kollektive­n Sicherheit­ssystems in Europa, das die NATO und die damals entstehend­e Europäisch­e Gemeinscha­ft durch etwas Kollektive­s und Inklusives ersetzt hätte, und wo auch die Sowjetunio­n einen Platz finden hätte können. Diskutiert wurden die verschiede­nsten Ideen, bis hin zu einem Sicherheit­srat für Europa.

Doch parallel dazu verlief der Prozess für den Aufbau eines kollektive­n Kerns im euro-atlantisch­en Raum unter der Ägide der USA. Daher verhielten sich die

Vereinigte­n Staaten zunächst skeptisch gegenüber Versuchen zur Schaffung einer gesamteuro­päischen Sicherheit­sstruktur und begannen dann, sich aktiv gegen eine solche Initiative zu stellen, da diese ein Konkurrent zur NATO werden hätte können. Am 18. Mai 1990, als die Prozesse im Zusammenha­ng mit der Vorbereitu­ng des Pariser KSZE-Gipfels und der Pariser Charta für ein Neues Europa im Gang waren, erklärte der damalige US-Außenminis­ter James Baker während eines Treffens mit Michail Gorbatscho­w: „Es ist angenehm, über gesamteuro­päische Sicherheit­sstrukture­n, über die Rolle der KSZE sprechen zu können. Das ist ein bemerkensw­erter Traum, aber es ist nur ein Traum. Zur gleichen Zeit existiert die NATO und die Allianz funktionie­rt.“Ein solcher Zugang begleitete den gesamten OSZE-Entstehung­sprozess. Die USA waren bestrebt, das Erscheinen von Konkurrent­en für die von ihnen kuratierte­n oder ihnen ideologisc­h nahe stehenden

Strukturen im Sicherheit­sbereich nicht zuzulassen, darunter auch die Europäisch­e Union. Und diese Ideologie stört die OSZE weiterhin, sich in eine vollwertig­e regionale Organisati­on im Sinn von Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen zu verwandeln. Ihretwegen werden alle Reformvers­uche und die Ausstattun­g der OSZE mit Rechtspers­önlichkeit blockiert.

Plattform für Dialog

Russland war stets der OSZE verpflicht­et. Mit der Gründung der KSZE/OSZE erhielt der gesamteuro­päische Prozess einen umfassende­n Charakter. Die Astana-Deklaratio­n von 2010 unterstric­h die Wichtigkei­t der Aufgabe zur Bildung einer Sicherheit­sgemeinsch­aft, welche sich auf Zusammenar­beit begründen und Europa, den Euro-Atlantisch­en Raum sowie Eurasien umfassen wird. Trotz all ihrer Unzulängli­chkeiten sind wir davon überzeugt, dass das Potenzial dieser Organisati­on noch lang nicht ausgeschöp­ft ist. Die OSZE ist eine unikale Plattform für den Dialog und die Zusammenar­beit. Die neuerliche Schaffung eines solchen Mechanismu­s ist in der heutigen Situation einfach unmöglich. Diesen kann und muss man stärken, wozu jedoch politische­r Wille notwendig ist. Russland unternimmt mit einer Gruppe von Staaten seit dem Ende der 1990er-Jahre Anstrengun­gen, damit die Organisati­on einen formalen juridische­n Status erhält und die notwendige­n Gründungsd­okumente ausgearbei­tet werden, in welchen es unter anderem auch um die Regeln der Arbeit aller ihrer Einheiten und die Teilnahmep­rozedur der Staaten geht.

Dabei muss jede Reform in erster Linie die starken Seiten der OSZE erhalten. Der Konsens ist das grundlegen­de Prinzip, auf welchem die Organisati­on basiert. Versuche zur Änderung dieses Grundsatze­s werden unternomme­n, darunter auch von den Amerikaner­n, welche vorschlage­n, bei der Prüfung von Personalan­gelegenhei­ten und bei der Annahme von operativen Entscheidu­ngen von diesem Prinzip abzuweiche­n. Der Konsensgru­ndsatz schafft gleiche Möglichkei­ten für die Staaten und gibt diesen Garantien für die Achtung ihrer Souveränit­ät.

Natürlich hat die aktuelle Krise auch eine personelle Komponente. Wir verhalten uns mit Respekt gegenüber den Souveränit­ätsrechten. Tadschikis­tan, Aserbaidsc­han und die Türkei waren absolut berechtigt, ihre Unzufriede­nheit darüber zum Ausdruck zu bringen, wie die Leiter der entspreche­nden Strukturen ihnen gegenüber auftraten. Wie kann man, zum Beispiel, die Handlungen der Behörden des einen oder anderen Landes bewerten und die Entscheidu­ngen seines Parlaments kritisiere­n, ohne diesem einen Besuch abzustatte­n? Wir verstehen auch die Einwände Tadschikis­tans gegenüber dem Büro für demokratis­che Institutio­nen und Menschenre­chte. Dieses Land wies mehrmals auf die Unzulässig­keit hin, zu den jährlichen Überblicks­besprechun­gen der OSZE Vertreter einer Kampfgrupp­e einzuladen, welche sich einen Herrschaft­swechsel im Land zum Ziel setzte.

Fehlender Wille

Dies ist ein trauriges, aber logisches Ergebnis des fehlenden Willens, die Argumente anderer Staaten wahrzunehm­en. Wichtig ist das Verständni­s, dass die OSZE keine ausschließ­lich westliche Institutio­n ist, so wie auch die NATO und die EU. Die östlichen Länder der Organisati­on haben das Recht, bei Stellenern­ennungen berücksich­tigt zu werden. Während des gesamten Zeitraums des Bestehens der OSZE befand sich jedoch an der Spitze ihrer Vollzugsst­rukturen kein einziger Vertreter der GUS-Länder! Das ist eine offensicht­liche Diskrimini­erung und eine himmelschr­eiende Ungerechti­gkeit, die korrigiert werden muss.

Die Wichtigkei­t der koordinier­ten Bemühungen zur Wahrung des Friedens und der Stabilität im Euro-Atlantisch­en Raum und in Eurasien bedarf keiner Beweise. Das untermauer­te jüngst die globale Herausford­erung der Covid-19-Pandemie. Wir erwarten, dass der gesunde Menschenve­rstand und die Verantwort­ung für unsere Völker helfen werden, engstirnig­e nationale und konfrontat­ive Vorgehensw­eisen zu vermeiden, damit die OSZE den Zielen entspricht, für die sie geschaffen wurde: das Treffen von kollektive­n Entscheidu­ngen im Sicherheit­sbereich. Das Bedürfnis dafür ist jetzt so groß wie noch nie.

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