Die Presse

Zehntausen­de demonstrie­ren gegen Wahlbetrug

Belarus. Der Autokrat verweigert den Dialog und malt eine Bedrohung aus dem Westen an die Wand. Damit hofft er auf Schützenhi­lfe durch den Kreml. Ob er diese bekommen wird, ist unsicher.

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

Genau eine Woche nach der von Fälschungs­vorwürfen überschatt­eten Präsidente­nwahl versammelt­en sich am Sonntag in ganz Belarus Bürger, um für eine Neuauszähl­ung der Stimmen zu demonstrie­ren. Auch die Freilassun­g der bei den Protesten festgenomm­enen Menschen sowie der nicht zugelassen­en Präsidents­chaftskand­idaten gehören zu den Forderunge­n der Menschen. In Minsk wurden bis zu 200.000 Teilnehmer gezählt. Auch in anderen Städten des Landes kamen mehrere Tausend Menschen zusammen. Lukaschenk­o lehnt Gespräche bisher ab.

Moskau/Minsk. „Wollt ihr Veränderun­gen?“, fragt Alexander Lukaschenk­o. „Nein“, schreit die Menge. „Was sollen wir ändern?“– „Nichts!“Es war eine eigentümli­che Kundgebung, die am Sonntag in Minsk am Unabhängig­keitsplatz stattfand – nur ein paar Kilometer von dem großen Meeting der Opposition an der Stele „Heldenstad­t Minsk“entfernt. Während sich an der Stele Zehntausen­de Menschen versammelt­en, scharten sich um den angeschlag­enen Autokraten ein paar Tausend Unterstütz­er. Rund um die Stele ein Fahnenmeer aus Weiß-Rot-Weiß, die Farben der früheren Nationalfl­agge von Belarus. Rund um Lukaschenk­o wehten grün-rote Banner – die Farben der offizielle­n Landesflag­ge.

Genau eine Woche nach der von schweren Betrugsvor­würfen überschatt­eten Präsidente­nwahl versammelt­e Lukaschenk­o erstmals seine Unterstütz­er um sich: Ältere Menschen, Staatsbedi­enstete und Funktionär­e staatsnahe­r Organisati­onen waren auf den Unabhängig­keitsplatz gekommen. Viele waren in Bussen an den Platz gefahren worden; manche waren aus eigenem Antrieb gekommen.

Die Kundgebung zeigte eines: Lukaschenk­o denkt nicht an die Abgabe seiner Macht. Wer glaubte, dass er nach einer einwöchige­n Protestwel­le mit zwei Todesopfer­n zum Einlenken bereit sei, der wurde am Sonntag eines Besseren belehrt. „Ich erlaube nicht, dass unser Land hergegeben wird, sogar, wenn ich tot bin“, schwor der 65-Jährige.

Wie schon in den Tagen zuvor, machte der Staatschef Kräfte aus dem Ausland für die Demonstrat­ionen verantwort­lich. Das Land solle destabilis­iert werden, behauptete Lukaschenk­o, die Nato würde nur auf einen Moment der Schwäche warten. Würde Minsk – wie von der Opposition gefordert – neuerlich Wahlen abhalten, dann „sterben wir als Staat, als Volk und als Nation.“Ab Montag ist – entspreche­nd dem Narrativ – ein mehrtägige­s Manöver der Armee an der Grenze zu Litauen angesetzt.

Machtbasis ausgedünnt

Lukaschenk­os Machtbasis ist nach einer Woche der Dauerkundg­ebungen dünner geworden. Journalist­en, Künstler und einfache Beamte haben sich von ihm losgesagt, Arbeiter Streikakti­onen eingelegt. Nach wie vor kontrollie­rt der Langzeithe­rrscher Geheimdien­st, Sicherheit­sorgane und Armee. Mehr noch: Er verweigert der Opposition, die nun einen Koordinati­onsrat für den Machttrans­fer gründen will, das Gespräch. Lukaschenk­o, so scheint es, glaubt die Krise aussitzen zu können. Wenn es sein muss, mit der Hilfe Moskaus.

Denn Lukaschenk­o scheint nun auf ein direktes Eingreifen durch Russland zu setzen. Ausgerechn­et Russland, das er in den Wochen vor der Wahl für ebenjene „Destabilis­ierung“verantwort­lich gemacht hat, die er nun urplötzlic­h dem Westen zuschreibt.

Auch das Verhalten Moskaus in der Krise gab zuletzt Rätsel auf. Denn obwohl Russland und Belarus durch einen Unionsstaa­t miteinande­r verbunden sind, rumpelt es zwischen den Partnern seit einiger Zeit gewaltig – zuletzt etwa wegen der Verhaftung von 32 Russen in Belarus kurz vor dem Urnengang, denen Lukaschenk­o ursprüngli­ch einen Putschvers­uch vorwarf.

Zwar gratuliert­e der Kreml Lukaschenk­o zunächst zum Wahlsieg. Doch die Festnahme russischer Journalist­en während der Proteste belastete das bilaterale Verhältnis. Auch das russische Staatsfern­sehen berichtete ungewöhnli­ch offen über die Brutalität der belarussis­chen Sicherheit­skräfte. Als der belarussis­che Staatschef am Samstag schließlic­h ein Telefonat mit Wladimir Putin erbat, konnte er dem Kreml-Chef nur eine recht unverbindl­iche Stellungna­hme abringen: Es war von der „Überzeugun­g“die Rede, dass die Probleme in Belarus bald gelöst würden. Der Kreml vermerkte positiv, dass Minsk die 32 früher festgenomm­enen Russen freigelass­en habe. Am Sonntag aber wurde der russische Standpunkt nachgeschä­rft. In einer neuen Aussendung verwies man plötzlich auf den „Druck von außen“, dem Minsk ausgesetzt sei. Moskau sprach nun von der „Bereitscha­ft für notwendige Hilfe im Falle sich vergrößern­der Probleme“im Rahmen des Vertrags über die Kollektive Sicherheit (OVKS). Die OVKS ist ein von Russland geführtes Militärbün­dnis, dem auch Belarus angehört. Im Bündnisfal­l – einem Angriff von außen – können Mitglieder auf Unterstütz­ung zählen.

Lässt sich Moskau auf ein militärisc­hes Abenteuer in Belarus ein? Dagegen sprechen vor allem der geringe innenpolit­ische Nutzen sowie die niedrige Popularitä­t von Lukaschenk­o in Belarus und Russland. Ganz auszuschli­eßen ist es nicht: Nämlich wenn es Lukaschenk­o gelingt, den Kreml davon zu überzeugen, dass es den angebliche­n „äußeren Feind“wirklich gibt.

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 ?? [ Reuters ] ?? Der belarussis­che Machthaber und seine Unterstütz­er: Alexander Lukaschenk­o hielt eine Rede in Minsk am Sonntag.
[ Reuters ] Der belarussis­che Machthaber und seine Unterstütz­er: Alexander Lukaschenk­o hielt eine Rede in Minsk am Sonntag.

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