Die offenen Fragen zum Schulstart
Coronavirus-Epidemie. Von der Definition eines Verdachtsfalls sowie vom Vorgehen nach einem positiven Test hängt es ab, ob im Herbst und Winter ein einigermaßen regulärer Unterricht möglich sein wird.
Ein Regelbetrieb ohne Maskenpflicht, Homeschooling und Schichtsystem – wenn in drei Wochen das Schuljahr 2020/2021 beginnt, sollen die 1,1 Millionen Schüler, davon 700.000 sechs bis 14 Jahre alt, ohne nennenswerte Einschränkungen den Unterricht besuchen. Das ist das erklärte Ziel von Bildungsministerg Heinz Faßmann (parteifrei, auf Ö VP-Ticket), der heute, Montag, seinen Fahrplan für den Herbst vorstellen will.
Ein Konzept, an dem bis zuletzt gefeilt wurde und das viel Interpretationsspielraum beinhalten dürfte, sind sich doch die Bundesländer hinsichtlich der Vorgehensweise nach Verdachts- und bestätigten Fällen alles andere als einig. Auch die Definition eines Verdachtsfalls wird ein entscheidender Faktor für die Beurteilung der Gefährdungslage sein, sagt Bernd Lamprecht, Vorstand der Klinik für Lungenheilkunde des Kepler-Universitätsklinikums Linz, der selbst Covid-19-Patienten mit unterschiedlich schweren Verläufen behandelt und sich intensiv mit Infektionswegen beschäftigt.
Definition eines Verdachtsfalls
Die Bestimmung eines Verdachtsfalls zählt zu den wichtigsten ungeklärten Fragen für den Schulstart. Werden alle Schüler mit Erkältungssymptomen wie Husten, Schnupfen, Halsschmerzen und erhöhter Temperatur getestet, ist ein regulärer Betrieb in den Klassen kaum möglich. Da praktisch alle Schüler im Herbst und Winter von der Grippe oder grippalen Infekten betroffen sind, viele von ihnen sogar mehrmals, wären die Testkapazitäten bald ausgeschöpft. Zur Verdeutlichung: Würden sämtliche Schüler nur einmal getestet werden, brauchte es dafür so viele Tests, wie in Österreich bisher insgesamt durchgeführt wurden.
„Die Haus- und Schulärzte müssen also auf Basis zuvor definierter Kriterien entscheiden dürfen, bei welchen Beschwerden Kinder oder Jugendliche als Verdachtsfälle gelten“, sagt Bernd Lamprecht. So könne als Voraussetzung für einen Test etwa hohes Fieber, trockener Husten, Atemnot sowie der Verlust des Geschmacks- und Geruchssinns festgelegt werden. Eine solche Richtschnur sei notwendig, um die verantwortlichen Mediziner vor erwartbarer Kritik zu schützen. Denn angesichts schwer unterscheidbarer Symptome seien Fehleinschätzungen unvermeidlich. Lamprecht rät daher Bildungsund Gesundheitsministerium, „bereits jetzt vor die Kameras zu treten und der Bevölkerung mitzuteilen, dass Erkältungszeichen weder bei sich noch bei ihren Kindern zwingend zur Testung führen werden, denn wie schon in den vergangenen Jahren sind sie höchstwahrscheinlich nicht auf Covid-19 zurückzuführen, sondern auf die Grippe oder einen grippalen Infekt“. Über die Sommermonate sei ein „großzügiges Testen“möglich gewesen, aber ab dem Herbst würden dafür die Ressourcen nicht mehr ausreichen. Selbst dann, wenn die angekündigten 15.000 Testungen pro Tag realisiert werden.
Tatsächlich hatte Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) Anfang Juli die Kriterien für Verdachtsfälle gelockert; so gilt etwa Fieber nicht mehr als Bedingung für einen Test. Grundsätzlich werde jeder, der sich unwohl fühle und den Verdacht habe, sich angesteckt zu haben, einen Test bekommen, sagte Anschober.
Vorgehen nach bestätigtem Fall
Die Vorgehensweise in der Klasse nach einem Verdachtsfall bzw. einem positiven Test bei einem Schüler oder Lehrer ist die zweite große Streitfrage in der Erstellung des Fahrplans. Konkret: Was passiert in den beiden Tagen, in denen auf das Ergebnis gewartet wird, und in den rund zehn Tagen (Inkubationszeit) nach einem bestätigten Fall? Da innerhalb einer Klasse alle als Kontaktperson der Kategorie eins (über längere Zeit enger Kontakt zur Indexperson) gelten, kommen als Reaktion nur Homeschooling oder eine generelle Maskenpflicht (beim Betreten und Verlassen der Schule, in den Pausen und im Unterricht) infrage. Faßmann ließ bisher durchblicken, dass für ihn im Ernstfall Homeschooling eher denkbar ist als ein Mund-Nasen-Schutz im Unterricht. In man
chen Ländern ist man da aber anderer Meinung und hält – sogar für Volksschulkinder – die Maskenpflicht für das gelindere Mittel.
Dieser Ansicht ist auch Lamprecht. Er schlägt vor, dass bei einem Verdachtsfall lediglich der betroffene Schüler (oder Lehrer) eine Maske tragen muss – und zwar so lang, bis das Ergebnis vorliegt. Ist es negativ und lässt der Gesundheitszustand die Fortsetzung des Schulbesuchs zu, darf er die Maske wieder absetzen (oder freiwillig weiter tragen) und achtet ganz besonders auf die üblichen Verhaltensregeln wie Händehygiene und Abstandhalten. Fällt es positiv aus, wird er isoliert, während der Unterricht ohne weitere Quarantänemaßnahmen fortgesetzt wird, aber: Alle Schüler in der Klasse müs
sen in den kommenden zehn Tagen einen Mund-Nasen-Schutz verwenden. Weisen in weiterer Folge auch andere Schüler Covid-19-Symptome auf, können sie ebenfalls bis zum Vorliegen des Resultats in der Klasse bleiben. Isoliert werden also ausschließlich positiv Getestete.
„Wenn wir Schulschließungen und Homeschooling bzw. Distance Learning verhindern wollen, halte ich diesen Weg für einen gangbaren“, sagt Lamprecht. „Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Kinder und Jugendliche seltener schwere Krankheitsverläufe haben und aus diesem Grund – weil sie weniger husten sowie niesen und dadurch weniger Erreger verbreiten – nicht ganz so ansteckend sein dürften wie Erwachsene.“Den Unterricht in der Klasse auch mit möglicherweise infizierten Schülern mit Maskenpflicht fortzusetzen, entspricht im Übrigen auch der Logik des Contact Tracing, also des Ermittelns und Isolierens der Kontaktpersonen von Infizierten. Denn wenn sowohl die infizierte als auch die Kontaktperson eine Maske trugen, liegt es im Ermessen der Behörden, ob sie Letz
tere der Kategorie eins zuordnen und somit verpflichtend testen.
Selbst dann, wenn über längere Zeit (mindestens 15 Minuten) enger Kontakt bestand, beispielsweise in einem Supermarkt oder in öffentlichen Verkehrsmitteln, in denen Maskenpflicht besteht. Der Kontakt gilt also nicht als ungeschützt, wenn beide Beteiligten eine Maske trugen. Über die Teststrategie für den Herbst und Winter ist bisher lediglich bekannt, dass in ausgewählten Schulen im ganzen Land die Gurgelmethode in Kombination mit Pooling zur Anwendung kommen soll. Dabei werden, um Zeit zu sparen, die Proben von rund zehn Schülern zusammengefasst und getestet – erst bei einem positiven Ergebnis werden sie einzeln getestet. Labormediziner warnen aber im Gespräch mit der „Presse“davor, dass durch die Verdünnung des Speichels Infektionen, insbesondere bei leichten Verläufen mit geringer Viruslast, übersehen werden könnten, und halten diese Tests nicht für verlässlich.
Darauf zu hoffen, dass diese Screenings in einzelnen Schulen keine positiven Ergebnisse liefern und dadurch der Regelbetrieb nicht gefährdet wird, ist Lamprecht zufolge daher ein riskantes Unterfangen. Auch, weil diese Strategie viele Eltern nicht beruhigen werde und dazu führen könnte, dass sie ihre Kinder eigenmächtig nicht in die Schule schicken, um sie und sich selbst zu schützen – etwa dann, wenn in einer Klasse mehrere Schüler erkranken, aber nicht als Verdachtsfall kategorisiert werden.
Noch umstrittener ist der Vorschlag der SPÖ, sämtliche Schüler mit Gurgeltests für zu Hause auszustatten. Abgesehen davon, dass sie behördlich nicht anerkannt werden, weil die Probe auch von jemand anderem als dem betroffenen Kind stammen könnte, gibt es bei der Probenentnahme (20 bis 30 Sekunden lang mit einer Kochsalzlösung oder sterilem Wasser intensiv gurgeln) und dem umgehenden Transport in ein Labor (ohne Temperaturschwankungen) zu viele Fehlerquellen, die die Zuverlässigkeit dieser Tests massiv infrage stellen.
Zum Vergleich: Selbst bei Tests im Labor, bei denen der Abstrich von geschultem Personal mit einem Wattestäbchen aus dem Nasen-Rachen-Raum entnommen wird, sind rund 20 bis 30 Prozent der negativen Ergebnisse falsch.