Leitartikel von Norbert Mayer
Die Salzburger Festspiele haben bereits gut zwei von vier Wochen absolviert. Das ist ein positives Signal für die Kultur und auch eine Mahnung zur Vorsicht.
Der Sommer 2020 ist außergewöhnlich für Salzburg – nicht wegen der besonderen Opulenz, die für die Festspiele in ihrem hundertsten Jahr ursprünglich geplant war, sondern weil ihre Organisatoren das Beste aus der Corona-Katastrophe zu machen versuchen. Hier hält die Welt der Kultur ihre Generalprobe für das Kommende: Kann man es trotz der anhaltenden Pandemie wagen, Menschenmassen bei Aufführungen von Oper, Theater und Konzert zusammenzubringen?
Während allerorten im März die Saison abgebrochen wurde und die meisten Sommerfestivals ausblieben, zeigte Salzburg wie nur wenige andere Widerstandskraft. Das Direktorium (Präsidentin Helga Rabl-Stadler, Intendant Markus Hinterhäuser und der Kaufmännische Direktor Lukas Crepaz) absolvierte im Frühjahr einen Crashkurs in Krisenmanagement. Der beherzte Schluss: Es wird gespielt!
Dafür sind strenge Sicherheitsvorkehrungen geschaffen worden, regelmäßige Tests für die Mitwirkenden, exakte Erfassung des Publikums, Kontrolle bis ins Detail. Fächerverbot (eine Viren-Schleuder). Das Markenzeichen für 2020 ist die Maske für Mund und Nase. Der von den Veranstaltern zum Verkauf angebotene Textilschutz dürfte ein begehrtes Souvenir werden – 100 Jahre Salzburger Festspiele, und wir haben unbeschadet überlebt!
Das erfordert Frugalität. Nur rund ein Drittel der sonst üblichen Veranstaltungen gibt es diesmal. Zu ihnen ist weit weniger Publikum zugelassen. Keine Pausen, keine Buffets oder Society-Events am Rande, weniger Rummel, mehr Fokus auf die Kunst. Die Angst bleibt dennoch präsent. Manche Journalisten, so vernahm man mit Empörung aus dem Festspielhaus, schienen nur darauf zu warten, dass ein schlagzeilenträchtiger Coronafall auftrete.
Kann sich also 2020 für die Festspiele rechnen? Aus dem Budget dieses Jahres wird das garantiert nicht herauszulesen sein, doch anderes spricht dafür, etwa die von Politikern häufig zitierte Umwegrentabilität für ein Tourismusland. Salzburg ist derzeit auf allen Medienkanälen höchst präsent, konkurrenzlos fast. Die wichtigste Botschaft an alle Welt lautet: Nur Mut, es kann bei genug Umsicht tatsächlich weitergehen mit dem Wahren, Guten und Schönen. Für Österreich, diese „Kulturnation“, in der circa 180.000 Menschen im Umfeld der Kunst tätig sind (die jährlich sechs Milliarden Euro erwirtschaften), hat das Signal aus Salzburg ungeheuren Wert.
Es wirkt vor allem auch psychologisch. Wer mit Kulturschaffenden zu tun hat, erfährt besonders deutlich, wie existenzgefährdend Corona ist. All diese Beschäftigten in mittleren, kleinen und zumeist höchst differenzierten Betrieben, haben eine weit weniger starke Lobby als zum Beispiel kompaktere Interessengemeinschaften, wie im Agrarbereich und bei der Bundesbahn.
Bei den Festspielen wurde bereits mehr als die Hälfte von diesmal nur 30 Tagen absolviert. Es hat bisher trotz Corona funktioniert. Dafür aber musste, wie gesagt, rigoros vorgegangen werden. Eine persönliche Bemerkung: Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man im Landestheater eine Uraufführung besucht, bei der einem das Parkett eher halb leer als halb voll vorkommt. Trotzdem haben auch mit Maske wohl nicht nur Hypochonder das Gefühl, allzu nah beim Nachbarn zu sitzen. Weit weg ist man nur von Normalität. Aber jedenfalls wird hier mitten in der Pandemie demonstriert, wie man Krisen überwindet. Salzburg kann sich das – noch – leisten.
Die wahre Bewährung kommt spätestens im Herbst, wenn allenthalben Theater, Opernhäuser, Konzertsäle und Kleinkunstbühnen wieder eröffnen wollen, die meisten mit weniger Mitteln und geringerem Spielraum, um Corona zu begegnen. Die Nervosität, die einige Wiener Kulturmanager jüngst in emotionalen Wortmeldungen erkennen ließen, ist erklärbar. Man denke nur an die Künstler und ihre Helfer im Hintergrund. Sie sind jeden Tag einer neuen Welle von Zusehern ausgesetzt. Spätestens im Oktober wird wieder das Husten im Publikum einsetzen. Da dürfte sich dann kaum einer nur darüber echauffieren, dass dies den Kunstgenuss stört.
Sie habe dieses Rezital „Renaissance“betitelt, verriet Sonya Yoncheva am Ende des offiziellen Programms. Musikhistorisch betrachtet stammte freilich der schöne Wechsel instrumentaler und vokaler Nummern, den das Publikum im Haus für Mozart gerade bejubelt hatte, hauptsächlich aus dem 17. Jahrhundert, aus Opern, Oratorien, Madrigalsammlungen und Sonaten von Monteverdi, Cavalli oder Stradella, aber auch aus Volksmusik des Mittel- und Schwarzmeerraums. Doch der Titel sei besser metaphorisch zu verstehen, betonte sie: als Wiedergeburt des Musizierens nach dem Lockdown.
Sonya Yoncheva besitzt keine Stimme zum bloßen Zurücklehnen, zum reinen Schwelgen im Wohlklang – doch das soll kein Tadel sein. Sie kann ihren Sopran zwar immer noch jugendlich schlank und hell einsetzen, sich aber genauso zu dramatischerer Fülle aufschwingen: Dann bestehen an Hoheit ihrer Opernfiguren und der Autorität ihrer musikalischen Rede kein Zweifel. Daneben wird auch das Lyrische nie dünn oder karg, sondern ist von Charakter durchpulst. Dass bei piano angesetzten Tönen genauso wie bei etwas unbequem liegenden Phrasen die Intonation manchmal minimal verrutschen, das Timbre einen Schuss Rauchigkeit bekommen und der Klang unstet werden kann, war zwar vernehmbar, verwandelte sich aber in der Regel mit sofortigem Gewinn in puren Ausdruck – in der berühmten Sterbe-Arie der Dido etwa, „When I am laid in earth“aus Henry Purcells „Dido and Aeneas“. Zu ihr hatte „Ojos, pues me desden˜a´is“des Spaniers Jose´ Mar´ın hingeleitet – in einer der stimmungsvollen Bearbeitungen von Quito Gato: Er drückte diesen knapp eineinhalb Stunden auch an diversen Lauteninstrumenten seinen Stempel auf, zusammen mit Leonardo Garc´ıa Alarcon´ an Orgel und Cembalo, dem Gründer und Leiter der wunderbar einfühlsamen Cappella Mediterranea und einst ein Lehrer Yonchevas.
Berührendes Stück aus Bulgarien
Zum emotionalen Höhepunkt des Nachmittags wurde trotzdem ein anderes Stück – nicht nur für Yoncheva selbst, die danach die Tränen nicht zurückhalten konnte, sondern auch fürs in Bann geschlagene Publikum: ein anonym überlieferter Gesang aus ihrer Heimat Bulgarien, „Zableiano mi agunce“. Über einem Bordun erhebt sich die Stimme aus erdiger Tiefe zu melancholischen Melismen, orientalisch klagend und durchdringend, zärtlich, halb gehaucht, halb gesungen, wie in eine andere Welt entrückt, die Swirka, eine bulgarische Schäferflöte, gesellt sich als authentische Farbe dazu . . . Die beschworene „Renaissance“aber fand erst bei den Zugaben ihre originelle Erfüllung. Eine Viertelstunde zuvor hatte Yoncheva noch in John Dowlands „Come again, sweet love“jedes Wort ausgekostet, mit Sinn angereichert und mit leichter Hand gezeigt, dass nicht erst wieder ein Sänger wie Sting kommen muss, um die zeitlosen Popqualitäten der Dowland-Songs nachzuweisen. Yoncheva aber tat noch mehr, und das mit betörenderen vokalen Mitteln: Sie vollführte einen Brückenschlag von der Gegenwart in die Vergangenheit. Fantastisch: Gatos barocke Einkleidung der Abba-Nummer „Like An Angel“– als wäre man in einem Notenarchiv auf das historische Original gestoßen. Und großartig, wie Yoncheva dabei mit kunstvoller Schlichtheit ins Herz traf: nicht absolut makellos, aber beglückend.