„Die Maßnahmen funktionieren nicht“
Covid-Risikoanalyse. In mehreren Mitgliedstaaten entgleitet den Behörden die Kontrolle, warnt das EU-Seuchenzentrum.
Brüssel. Vier von zehn europäischen Patienten mit schweren Covid-19-Erkrankungen sind jünger als 50, jedem vierten EU-Mitgliedstaat droht die Kontrolle über die Eindämmung der Seuche zu entgleiten, wer älter als 65 ist, für den ist das Gesundheitsrisiko in ganz Europa sehr hoch: Vor Beginn des mit Sorge erwarteten Herbsts und Winters zeichnet das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) in seiner aktuellen Risikoanalyse ein düsteres Bild der Pandemie.
„In manchen Mitgliedstaaten ist die Situation jetzt schon schlimmer, als sie es im März war“, warnte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides am Donnerstag anlässlich der Veröffentlichung dieses Berichts. „Das zeigt, dass die Kontrollmaßnahmen nicht funktionieren, nicht befolgt werden oder nicht entsprechend vollzogen wurden.“Sie forderte die Mitgliedstaaten dazu auf, das Impfen gegen die Influenza zu fördern, um eine parallele Grippepandemie abzuwenden. Auf die Frage einer Journalistin, was sie von den Ankündigungen mehrerer Politiker verschiedener Staaten (darunter Bundeskanzler Sebastian Kurz) über die baldige Verfügbarkeit eines Impfstoffs gegen Covid-19 halte, sagte Kyriakides: „Einen Impfstoff zu finden wird nicht die Patentlösung sein.“Sie wolle nicht über dessen Einsatzbereitschaft spekulieren, doch zumindest werde das frühestens in „mehreren Monaten“so weit sein; also nach der Herbst- und Wintersaison, in der das Abstandhalten und das Vermeiden von Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen besonders schwer sein wird. „Ich bin tief besorgt über das, was ich heute sehe. Wir haben jetzt die letzte Chance, das zu verhindern, was im März geschehen ist.“
Moderates Risiko in Österreich
Das ECDC teilt die Staaten der EU sowie des Europäischen Wirtschaftsraums sowie das Vereinigte Königreich in drei Gruppen. In der ersten sind die Entwicklung der Ansteckungen und Spitalsaufnahmen stabil, das Risiko einer Eskalation sei folglich niedrig. Es gibt hier zudem wenige Fälle in den Risikogruppen, die Intensivpatienten und Todesfälle halten sich ebenfalls in Grenzen. Zu dieser Gruppe zählen Belgien, Deutschland, Finnland, Griechenland, Island, Italien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Polen, Schweden und Zypern. In einer zweiten Gruppe herrsche zumindest ein moderates Risiko. Das betrifft neben Österreich auch Estland, Dänemark, Frankreich, Irland, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Slowenien, die Slowakei sowie das Vereinigte Königreich. Sie alle haben gemein, dass sie hohe und weiterhin steigende Zahlen von gemeldeten Infektionsfällen aufweisen, die jedoch in erster Linie auf eine Zunahme der Tests zurückzuführen seien. Die Seuche verbreite sich in diesen Ländern vorrangig innerhalb der jüngeren Altersgruppen, also vor allem bei den 15- bis 49-Jährigen. Zudem liege der Anteil schwerer Fälle sowie jener von Todesfällen unter der Schwelle von zehn pro einer Million Personen.
Alarmierend sei jedoch die Lage in der dritten Ländergruppe, die Bulgarien, Kroatien, Malta, Rumänien, Spanien, Tschechien und Ungarn umfasse. Hier steigen die
Ansteckungen stark, und nicht nur unter den Jungen, ebenso gibt es viele neue Todesfälle, und „in manchen lokalen oder regionalen Bereichen dieser Länder ist das Gesundheitswesen bereits unter Druck, angesichts hoher Belegung von Intensivbetten und starker Erschöpfung des medizinischen Personals.“Ohne konkrete Namen zu nennen, warnte ECDC-Direktorin Andrea Ammon davor, dass es „in mehreren Ländern einen Übergang von lokalen Übertragungen zu dauerhaften allgemeinen Übertragungen“gebe.
Baldige Herdenimmunität darf man sich nicht erhoffen, fügte sie hinzu: „Bis heute ist das Niveau der Leute mit Antikörpern noch immer nicht sehr hoch. Höchstens 15 Prozent, meistens niedriger.“Nachsatz: „Es ist nicht die Zeit, sich darauf zu verlassen, dass sich die meisten Leute nicht anstecken können. Im Gegenteil: Die meisten können sich anstecken.“