Die Presse

„Die Maßnahmen funktionie­ren nicht“

Covid-Risikoanal­yse. In mehreren Mitgliedst­aaten entgleitet den Behörden die Kontrolle, warnt das EU-Seuchenzen­trum.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Vier von zehn europäisch­en Patienten mit schweren Covid-19-Erkrankung­en sind jünger als 50, jedem vierten EU-Mitgliedst­aat droht die Kontrolle über die Eindämmung der Seuche zu entgleiten, wer älter als 65 ist, für den ist das Gesundheit­srisiko in ganz Europa sehr hoch: Vor Beginn des mit Sorge erwarteten Herbsts und Winters zeichnet das Europäisch­e Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheite­n (ECDC) in seiner aktuellen Risikoanal­yse ein düsteres Bild der Pandemie.

„In manchen Mitgliedst­aaten ist die Situation jetzt schon schlimmer, als sie es im März war“, warnte EU-Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides am Donnerstag anlässlich der Veröffentl­ichung dieses Berichts. „Das zeigt, dass die Kontrollma­ßnahmen nicht funktionie­ren, nicht befolgt werden oder nicht entspreche­nd vollzogen wurden.“Sie forderte die Mitgliedst­aaten dazu auf, das Impfen gegen die Influenza zu fördern, um eine parallele Grippepand­emie abzuwenden. Auf die Frage einer Journalist­in, was sie von den Ankündigun­gen mehrerer Politiker verschiede­ner Staaten (darunter Bundeskanz­ler Sebastian Kurz) über die baldige Verfügbark­eit eines Impfstoffs gegen Covid-19 halte, sagte Kyriakides: „Einen Impfstoff zu finden wird nicht die Patentlösu­ng sein.“Sie wolle nicht über dessen Einsatzber­eitschaft spekuliere­n, doch zumindest werde das frühestens in „mehreren Monaten“so weit sein; also nach der Herbst- und Wintersais­on, in der das Abstandhal­ten und das Vermeiden von Menschenan­sammlungen in geschlosse­nen Räumen besonders schwer sein wird. „Ich bin tief besorgt über das, was ich heute sehe. Wir haben jetzt die letzte Chance, das zu verhindern, was im März geschehen ist.“

Moderates Risiko in Österreich

Das ECDC teilt die Staaten der EU sowie des Europäisch­en Wirtschaft­sraums sowie das Vereinigte Königreich in drei Gruppen. In der ersten sind die Entwicklun­g der Ansteckung­en und Spitalsauf­nahmen stabil, das Risiko einer Eskalation sei folglich niedrig. Es gibt hier zudem wenige Fälle in den Risikogrup­pen, die Intensivpa­tienten und Todesfälle halten sich ebenfalls in Grenzen. Zu dieser Gruppe zählen Belgien, Deutschlan­d, Finnland, Griechenla­nd, Island, Italien, Lettland, Liechtenst­ein, Litauen, Polen, Schweden und Zypern. In einer zweiten Gruppe herrsche zumindest ein moderates Risiko. Das betrifft neben Österreich auch Estland, Dänemark, Frankreich, Irland, Luxemburg, die Niederland­e, Norwegen, Portugal, Slowenien, die Slowakei sowie das Vereinigte Königreich. Sie alle haben gemein, dass sie hohe und weiterhin steigende Zahlen von gemeldeten Infektions­fällen aufweisen, die jedoch in erster Linie auf eine Zunahme der Tests zurückzufü­hren seien. Die Seuche verbreite sich in diesen Ländern vorrangig innerhalb der jüngeren Altersgrup­pen, also vor allem bei den 15- bis 49-Jährigen. Zudem liege der Anteil schwerer Fälle sowie jener von Todesfälle­n unter der Schwelle von zehn pro einer Million Personen.

Alarmieren­d sei jedoch die Lage in der dritten Ländergrup­pe, die Bulgarien, Kroatien, Malta, Rumänien, Spanien, Tschechien und Ungarn umfasse. Hier steigen die

Ansteckung­en stark, und nicht nur unter den Jungen, ebenso gibt es viele neue Todesfälle, und „in manchen lokalen oder regionalen Bereichen dieser Länder ist das Gesundheit­swesen bereits unter Druck, angesichts hoher Belegung von Intensivbe­tten und starker Erschöpfun­g des medizinisc­hen Personals.“Ohne konkrete Namen zu nennen, warnte ECDC-Direktorin Andrea Ammon davor, dass es „in mehreren Ländern einen Übergang von lokalen Übertragun­gen zu dauerhafte­n allgemeine­n Übertragun­gen“gebe.

Baldige Herdenimmu­nität darf man sich nicht erhoffen, fügte sie hinzu: „Bis heute ist das Niveau der Leute mit Antikörper­n noch immer nicht sehr hoch. Höchstens 15 Prozent, meistens niedriger.“Nachsatz: „Es ist nicht die Zeit, sich darauf zu verlassen, dass sich die meisten Leute nicht anstecken können. Im Gegenteil: Die meisten können sich anstecken.“

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[ APA/AFP/Martin Bureau ]

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