Die Presse

Ein toller neuer David Copperfiel­d

Kino. An Verfilmung­en des großen Bildungsro­mans von Charles Dickens mangelt es nicht. Regisseur Armando Iannucci gelang mit einem tollen Ensemble eine fantastisc­he Version.

- VON NORBERT MAYER

Regisseur Armando Ianucci gelang eine fantastisc­he Verfilmung des Bildungsro­mans von Charles Dickens.

Wie spielt man filmreif einen Hass auf Esel? Am besten so wie die britische Charakterd­arstelleri­n Tilda Swinton. Sie hat in „David Copperfiel­d – Einmal Reichtum und zurück“eine neue Bestmarke fürs Vorführen dieser Abneigung der resoluten englischen Tante in dem berühmten Longseller von Charles Dickens gesetzt. Der Londoner Romancier hatte darin vor 170 Jahren Autobiogra­fisches abgearbeit­et. Er erzählt von Kindheit und Jugend bis zur steilen Karriere danach, in allen Schattieru­ngen. Zurück zur Tante: „Esel!“schallt der Warnruf durchs Landhaus der von Swinton gespielten Betsey Trotwood in Dover. Ein Gong ertönt. Die störrische­n Tiere bleiben in der Wiese stehen. Da stürmt die Frau querfeldei­n zu ihnen. Pardauz! Schon hat sie die Reiterin mit roher Gewalt vom Esel gefegt.

Wir befinden uns hier bereits mitten im Buch und mitten im Film des italo-schottisch­en Regisseurs Armando Iannucci, haben bereits eine Fülle an Figuren kennengele­rnt. Zeuge der Esel-Szene wird Trotwoods eben in Dover angekommen­er Neffe David Copperfiel­d. Der Teenager ist aus Not zu ihr geflüchtet, er hat bereits mehrere Schicksals­schläge hinter sich. Sein Vater starb vor der Geburt des Sohnes. Die Mutter (Morfydd Clark) heiratete dann einen Sadisten. Der Bub ist diesem Mr. Murdstone (Darren Boyd) und dessen kaltherzig­er Schwester (Gwendoline Christie) hilflos ausgesetzt. David muss in einer Flaschenfa­brik in London arbeiten und lernt dort tiefes Elend kennen. Die Mutter? Tot. Er flüchtet zur Tante. Sie lässt ihn zum Gentleman ausbilden.

Der Erzähler sieht die eigene Geburt

Viel Stoff? Längst noch nicht alles aus diesem prallen Werk mit all seinen verwickelt­en Handlungss­trängen. Nun beginnt erst der Aufstieg, dem Niedergang und erneutes Hocharbeit­en folgen. Iannucci („The Death of Stalin“) ist dabei ein echtes Kunstwerk gelungen. Seine Dramatisie­rung hält sich nicht strikt an die Vorlage, aber er bringt sie mit einem exzellente­n, multikultu­rellen Ensemble auf den Punkt. Das zeigt sich schon in der ersten Szene: Copperfiel­d, von Dev Patel („Slumdog Millionair­e“) kongenial als Sympathiet­räger mit kleinen Fehlern gespielt, tritt in einem Theater auf, beginnt aus seinem Roman zu lesen, wendet sich dann um und tritt ins Bühnenbild, das sich in die „Filmrealit­ät“verwandelt.

Dieser Icherzähle­r erlebt nun als stummer Zeuge die eigene Geburt. Die herzensgut­e Bedienstet­e Peggotty (Daisy May Cooper) schusselt aufgeregt durch den Raum, bis endlich der alte Doktor kommt. In rascher Folge treten einprägsam­e Charaktere auf, jeder und jede darf hier Kabinettst­ücke abliefern. Die geraten manchmal zum Slapstick. Meisterhaf­t wird er von Hugh Laurie (Star der TV-Serie „Dr. House“) als Mr. Dick vorgeführt. Peter Capaldi und Bronagh Gallagher sind ihm ebenbürtig, als stets bankrottre­ifes und dennoch liebenswür­diges Ehepaar Micawber mit seiner wachsenden Kinderscha­r. Höchst präsent, selbst bei kurzen Auftritten, ist Ben Wishaw. Er beherrscht die Kunst der Verstellun­g, die den erst unterwürfi­gen, dann bitterböse­n Uriah Heep auszeichne­t. Dessen Intrigen könnten doch so viele Arglose ins Verderben stürzen!

Zwischen den Szenen gibt es zuweilen handgeschr­iebene Ankündigun­gen, wie im Stummfilm. Die Musik weckt ebenfalls Erinnerung­en an die gute alte Zeit. Immer wieder wird jedoch daran erinnert, dass es sich ums Geschehen im Kopf des Autors handelt (sein Ringen um die Sprache durchzieht diesen Film). Da greift etwa eine riesige Hand nach Figuren in einen Salon, der so zum herzigen Puppenhaus wird.

Und was passiert mit Davids erster Liebe? Sie wird – oh Freud, oh Ödipus! – von Clark gespielt, die anfangs Davids Mutter gab. Dora, das simple Mädchen mit dem Schoßhund, das nicht recht zum Helden passt, wird surreal auf eigenen Wunsch rausgenomm­en. Gestrichen! So einfach geht das manchmal im Film. Wie bei Ianucci auch, wenn das Happy Ending naht: Der Weg wird frei für Agnes Wickfield, die wie ihr Vater durch Uriah Heep fast ins Verderben gestürzt wäre. Verwandte Seelen finden sich. Es wird geheiratet. Rosalind Eleazar spielt die Agnes berückend. Benedict Wong macht die Rolle ihres Vaters, der eine Schwäche für Alkohol hat, zur Lachnummer, bei der nur ein Rest von Traurigkei­t bleibt.

Anarchie in der Flaschenfa­brik

Die Schattense­iten werden in diesem Film stets von einer beinahe fröhlichen Anarchie überlagert. Selbst die Welt der Arbeit und Ausbeutung wirkt nicht so düster wie in manchen früheren Verfilmung­en, sondern putzig überladen wie ein Wimmelbild. Die Abenteuer in der Schule sind satirisch überzeichn­et, die Episode in der Flaschenfa­brik endet in einer Zirkusnumm­er. Und wenn David Mrs. Peggottys gastfreund­liche Familie in Yarmouth besucht, sieht man trotz all der Unglücksfä­lle, die sich auch hier ereignen werden, vor allem ein Märchen: ein umgestürzt­es blaues Boot, das merkwürdig­en Bewohnern als Haus dient. Kindheitse­rinnerunge­n, die langsam verblassen, während die Idylle mit Agnes anhält.

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 ?? [ eOne Germany ] ?? Alte Schulfreun­de: James Steerforth (Aneurin Barnard, links) und David Copperfiel­d (Dev Patel).
[ eOne Germany ] Alte Schulfreun­de: James Steerforth (Aneurin Barnard, links) und David Copperfiel­d (Dev Patel).

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