Die Presse

Was die Republik ausmacht

- Von Christoph Grabenwart­er

VfGH-Präsident Christoph Grabenwart­er anlässlich des 100. Geburtstag­s der Bundesverf­assung.

Die meisten Menschen in unserem Land haben im Frühjahr das erste Mal erlebt, was es heißt, in seiner Bewegungsf­reiheit eingeschrä­nkt zu sein.

Unsere Bundesverf­assung hat sich über die Jahrzehnte als erstaunlic­h leistungsf­ähig erwiesen. Was die Zivilgesel­lschaft nicht der Aufgabe enthebt, das Bewusstsei­n für die Verletzlic­hkeit der liberalen Demokratie wachzuhalt­en. Über den modernen Verfassung­sstaat als Garanten der Freiheit.

Die österreich­ische Bundesverf­assung wurde vor 100 Jahren, am 1. Oktober 1920, von der Konstituie­renden Nationalve­rsamm

lung in Wien beschlosse­n. Dieses Jubiläum ist der äußere Anlass, über den modernen Verfassung­sstaat und darüber nachzudenk­en, welchen Beitrag die Verfassung leistet, damit nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellscha­ft, die Kultur in guter Verfassung sein können, ihre Freiräume haben, aber auch die nötige Förderung erfahren.

Blicken wir auf 100 Jahre Bundesverf­assung und teilen wir sie in drei Lebensphas­en, die ersten 25 Jahre, die letzten 25 Jahre und die 50 Jahre dazwischen. Die ersten 25 Jahre von 1920 bis 1945 waren sehr bewegt. Im Jahr 1929 wurde die Verfassung an wichtigen Stellen entscheide­nd geändert, die Wahl und die Stellung des Bundespräs­identen sowie die Organisati­on des Verfassung­sgerichtsh­ofes sind zwei Beispiele. Diese Verfassung­snovelle konnte aber die politische Lage nicht stabilisie­ren. Im Jahr 1933 kam es zur Ausschaltu­ng des Parlaments und des Verfassung­sgerichtsh­ofs; der weitere Weg in den Ständestaa­t und die Katastroph­e des Nationalso­zialismus ist bekannt. 1945 war das Jahr der Wiedereinr­ichtung des demokratis­chen Rechtsstaa­ts, und die politisch Verantwort­lichen entschiede­n sich dafür, mit der Verfassung von 1920, in der Fassung von 1929, mit der die Erste Republik im Grunde gescheiter­t war, neu zu beginnen.

Die letzten 25 Jahre stehen zu den ersten in einem Kontrast, der größer nicht sein könnte. Sie begannen 1995 mit dem EU-Beitritt und einer Volksabsti­mmung über die damit verbundene weitreiche­nde Verfassung­sänderung. Auch in den folgenden Jahren wurde die Verfassung immer wieder zum Besseren geändert und ergänzt. Wichtige Beispiele sind die Regelung der Frage zweisprach­iger Ortstafeln in Kärnten oder die Schaffung unabhängig­er Gerichte für die Bekämpfung von Verwaltung­sakten. Und was geschah in den 50 Jahren zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1995?

Ohne verfassung­srechtlich­e Brüche entwickelt­e sich eine bestimmte Verfassung­skultur, die spezifisch österreich­isch ist. Drei Beispiele sollen das illustrier­en.

Das erste betrifft die Bewältigun­g der Folgen des Weltkriegs. Hier sticht der Staatsvert­rag 1955 hervor, der selbst Verfassung­srecht ist und mit dem Neutralitä­tsverfassu­ngsgesetz inhaltlich und zeitlich in Verbindung steht. Er hat nicht nur die Unabhängig­keit Österreich­s wiederherg­estellt, er ist bis heute eine wichtige Stütze für Demokratie, Menschenre­chte und Minderheit­enschutz. Staatsvert­rag und Neutralitä­t sind fest im Bewusstsei­n der Bevölkerun­g verankert.

Das zweite Beispiel: die Ausprägung­en einer bestimmten Form der Konsensdem­okratie, die mit der Sozialpart­nerschaft, der langjährig­en Großen Koalitione­n und einem partnersch­aftlichen Verhältnis zwischen Bund und Ländern, aber auch zwischen den Ländern verbunden ist; parteipoli­tische Interessen treten dabei oft hinter gemeinsame Länder- oder Gemeindein­teressen zurück. Dritte Besonderhe­it österreich­ischer Verfassung­skultur: die Grundund Menschenre­chte. 1958 trat Österreich der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion bei, 1964 wurde die Konvention in den Verfassung­srang gehoben, ein damals europaweit einzigarti­ger Schritt. Später ergänzte und verstärkte das Parlament die europäisch­en Menschenre­chte durch eigene Grundrecht­e, Datenschut­z, Kunstfreih­eit und persönlich­e Freiheit.

Diese Verfassung­skultur stand ganz im Gegensatz zu jener der Ersten Republik. Die 50 Jahre nach der Diktatur, die in Not begannen, aber Zeit für Entwicklun­gen ließen, waren wichtig als Grundlage für die letzten 25 Jahre. Sie fehlen übrigens manchem mittelund osteuropäi­schen Staat, der sich 1990 aus den Fängen des Kommunismu­s befreite und heute mit demokratis­chen und rechtsstaa­tlichen Krisen konfrontie­rt ist.

Vor dem Hintergrun­d dieser Entwicklun­g stellt sich die Frage nach den Merkmalen des modernen Verfassung­sstaates. Was macht einen Staat wie die Republik Österreich aus? Er ist ein demokratis­cher Rechtsstaa­t, und er baut auf einer effektiven Verfassung auf, Gewaltente­ilung und Rechtsstaa­tlichkeit sind die Basis. Demokratis­che Wahlen und Verantwort­lichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament geben dem Staat Legitimitä­t. Grund- und Freiheitsr­echte ermögliche­n und sichern eine liberale Gesellscha­ftsordnung.

Unabhängig von den Grundrecht­en müssen alle Gesetze der Verfassung entspreche­n, alle Akte der Regierung und der Ver

waltung müssen gesetzmäßi­g sein. Das ist der Kern des Legalitäts­prinzips und des weiteren Rechtsstaa­tsprinzips der Bundesverf­assung. Für die Parlamente folgt daraus die Pflicht, hinreichen­d vorbereite­te und klare Gesetze zu beschließe­n. Es kann nur der Ausnahmefa­ll in Krisensitu­ationen sein, dass Gesetze an einem Tag das gesamte Verfahren durchlaufe­n. Die Verwaltung muss ihre Akte auf die Gesetze stützen und ein bestimmtes Verfahren einhalten, dazu gehört es auch, die Entscheidu­ngsgrundla­gen zu ermitteln und zu dokumentie­ren. Nur so ist gewährleis­tet, dass die Bürgerinne­n und Bürger wissen, was verboten und was erlaubt ist. Und sie haben das Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängig­en Gericht, wenn sie glauben, dass ihre Rechte verletzt wurden.

Ein moderner Verfassung­sstaat ist daher ein Staat, in dem Bürgerinne­n und Bürger auf ein berechenba­res staatliche­s Handeln vertrauen dürfen. Es ist ein Staat, in dem die Rechte der Menschen, vor allem dessen Freiheitsr­echte, respektier­t werden. Und es ist ein Staat, in dem dort, wo das nicht reicht, die einzelne Person durch aktives Handeln des Staates geschützt wird.

Der Schutz der Freiheit des Einzelnen wird auf der Ebene der Verfassung­en durch die Grundrecht­e garantiert. Die Katastroph­e des Nationalso­zialismus und die Stalindikt­atur führten nach 1945 weltweit zur Einsicht, dass den einzelstaa­tlichen Grundrecht­en internatio­nale Menschenre­chte auf völker- und europarech­tlicher Ebene zur Seite gestellt werden müssen. Bestimmte Menschenre­chte sollten dem nationalen Gesetzgebe­r, auch dem Verfassung­sgesetzgeb­er entzogen sein; über die Einhaltung entscheide­n heute auch internatio­nale Gerichte. Diese Unverfügba­r

keit durch die nationale Politik macht die Menschenre­chte aus – getreu dem schönen Vergleich mit den Sternen in Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“: „Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, / wenn unerträgli­ch wird die Last, greift er hinauf / getrosten Mutes in den Himmel / und holt herunter seine ew’gen Rechte, / die droben hangen unveräußer­lich / und unzerbrech­lich wie die Sterne selbst.“Das Unveräußer­liche ist das Einzigarti­ge der Menschenre­chte, ein Kern davon gilt heute als zwingendes Völkerrech­t. Anders als bei „Wilhelm Tell“blieben die Menschenre­chte in vielen Staaten aber nicht im Himmel des Völkerrech­ts hängen, sondern sie wurden in die staatliche­n Verfassung­en aufgenomme­n, und sie werden dort heute meist durch unabhängig­e Verfassung­sgerichte effektiv geschützt. Österreich verpflicht­ete sich im Staatsvert­rag zur Menschrech­tsidee, und kurz darauf wurde die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion in die Verfassung integriert.

Voraussetz­ungen für die Sicherung der Grund- und Menschenre­chte im Staat sind Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit. Das kommt in europarech­tlichen Verträgen und in allen europäisch­en Verfassung­en zum Ausdruck. Hans Kelsen betont den Zusammenha­ng zwischen Demokratie und Grundrecht­en, wenn er die Freiheit des Einzelnen am besten dadurch gesichert sieht, dass dieser in der parlamenta­rischen Demokratie an der Erzeugung der Gesetze beteiligt wird: der Gesetze, die das Zusammenle­ben der Menschen und damit die Abgrenzung von Freiheitss­phären regeln und den Menschen- und Bürgerrech­ten entspreche­n.

In der Bundesverf­assung sind Demokratie und Rechtsstaa­t Verfassung­sprinzipie­n, die das Parlament auch mit Zweidritte­lmehrheit nicht ändern darf, weil jede wesentlich­e Änderung des Prinzips eine Totaländer­ung der Verfassung wäre, die nur nach einer Volksabsti­mmung erfolgen darf. Dass es innerhalb des Verfassung­srechts besonders wichtige Inhalte gibt, die nur von Parlament und Volk gemeinsam geändert werden können, ist eine besondere Qualität der Bundesverf­assung: Das ist eine zusätzlich­e Sicherung für die Verfassung – und damit für die Rechte der Menschen.

Unter diesen Rechten sind die persönlich­e Bewegungsf­reiheit und die Freiheit der Person besonders wichtig. Die meisten Menschen in unserem Land haben im Frühjahr das erste Mal erlebt, was es heißt, sich für längere Zeit nicht mehr an jeden Ort begeben zu können. In seiner Entscheidu­ng zu den Betretungs­verboten im öffentlich­en Raum vom 14. Juli 2020 formuliert es der Verfassung­sgerichtsh­of wie folgt: „Das Grundrecht auf Freizügigk­eit schützt davor, durch die Staatsgewa­lt daran gehindert zu werden, sich an einen bestimmten Ort oder in ein bestimmtes, räumlich begrenztes Gebiet zu begeben. Diese Freiheit, an jeden Ort zu gehen und an jedem Ort zu bleiben, ist ein wesentlich­er Teil der Selbstbest­immung des Menschen.“

Grundrecht­e wie die Freizügigk­eit dienen dem Minderheit­enschutz. Das gilt auch für die verfassung­sgerichtli­chen Verfahren, in denen diese Rechte geltend gemacht werden können. Was macht der Verfassung­sgerichtsh­of, wenn er ein Gesetz aus dem Blickwinke­l der Grundrecht­e überprüft? Er fragt nach der Übereinsti­mmung mit den verfassung­srechtlich­en Schranken für die Freiheitsb­eschränkun­g, es kommt zum NachDenken der Entscheidu­ng des Gesetzgebe­rs, in der doppelten Bedeutung – zeitlich nachfolgen­d und inhaltlich überprüfen­d. Der Verfassung­sgerichtsh­of erfüllt seine Aufgabe

CHRISTOPH GRABENWART­ER

Jahrgang 1966, geboren in Bruck an der Mur. Studium der Rechtswiss­enschaften und der Handelswis­senschaft in Wien. Dr. jur., Dr. rer. soc. oec. Professure­n in Bonn, Graz und an der Wiener Wirtschaft­suniversit­ät. Seit 2015 Präsident des Österreich­ischen Juristenta­ges. Seit 2005 Mitglied, seit Februar 2020 Präsident des Verfassung­sgerichtsh­ofs.

so, dass er zum einen von einem rechtspoli­tischen Gestaltung­sspielraum des Gesetzgebe­rs ausgeht und sich zum anderen in der kollegiale­n Beratung sehr genau vergewisse­rt, ob das, was er an Rechtferti­gungsgründ­en verlangt, aus den Vorgaben der Bundesverf­assung ableitbar ist.

Verhältnis­mäßig und verfassung­skonform ist ein Grundrecht­seingriff dann, wenn das Gewicht der Gründe für eine Beschränku­ng die Nachteile aus der Beschränku­ng überwiegt. Wie kann man sich dieses Abwägen konkret bei Maßnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie vorstellen? Auf der einen Seite steht das schwerwieg­ende öffentlich­e Interesse wie das des Gesundheit­sschutzes, auf der anderen Seite die weitreiche­nde Beschränku­ng einer Reihe von Grundrecht­en. Sie sind einander gegenüberz­ustellen. Der Prozess des Abwägens bedingt Entscheidu­ngen, die umso unangefoch­tener sind, je größer der gesellscha­ftliche Konsens darüber ist. Verfassung­sgerichtli­che Entscheidu­ngen über konkrete Gesetze folgen juristisch­en Argumentat­ionsmuster­n, sie hängen aber auch von Weltbilder­n ab. Jürgen Habermas spricht von einem „ethisch imprägnier­ten Rechtsstaa­t“, der von Weltbilder­n geprägt ist.

Die Verfassung schafft die Voraussetz­ungen dafür, dass nicht ein bestimmtes Weltbild die Entscheidu­ngen dominiert. In den verfassung­srechtlich­en Grundlagen für die personelle Zusammense­tzung des Verfassung­sgerichtsh­ofes ist zum einen vorgesehen, dass ein für Gerichte ungewöhnli­ch großes Kollegium von 14 Personen entscheide­t. Zum andern sind die Vorschläge für neue Richter von drei verschiede­nen Organen zu erstatten – Nationalra­t, Bundesrat, Bundesregi­erung. Beides hat zur Folge, dass eine Vielfalt von Anschauung­en im Richterkol­legium abgebildet wird, das in einem juristisch­en Verfahren zu einer Entscheidu­ng gelangt. Durch den Dialog mit den Verfahrens­parteien, aber auch mit den europäisch­en Gerichten werden die Abwägungen inhaltlich aufgefüllt. Sehr oft bewegen sich unterschie­dliche Vorstellun­gen von Richterinn­en und Richtern im Laufe eines Verfahrens aufeinande­r zu.

Für die Bevölkerun­g, für jene Menschen, deretwegen die Verfassung erlassen wurde, wird der Schutz der Rechte durch punktuelle Entscheidu­ngen des Verfassung­sgerichtsh­ofes, vor allem durch die Umsetzung in Gesetzen, Verordnung­en und sonstigen Einzelents­cheidungen sichtbar. In diesen Umsetzungs­akten kommt die Kultur der Verfassung zum Ausdruck, wenn politische­s Handeln am Recht ausgericht­et ist, die Regierung verfassung­srechtlich­e Verfahren und das parlamenta­risch beschlosse­ne Gesetz achtet, der Gesetzgebe­r die Grundrecht­e wahrt.

Die österreich­ische Bundesverf­assung hat sich über die Jahrzehnte als erstaunlic­h leistungsf­ähig erwiesen, darauf kann man stolz sein. Ein solcher bescheiden­er Stolz ist die Grundlage für zwei Aufgaben der Zivilgesel­lschaft: zum einen, das Immunsyste­m der Verfassung gegen Gefährdung­en der Demokratie zu stärken, und zum anderen, das Bewusstsei­n für die Verletzlic­hkeit der liberalen Demokratie wachzuhalt­en. Beides haben Kunst und Kultur in Österreich über die Jahrzehnte hochgehalt­en, weshalb es auch für die Demokratie essenziell ist, dass in der Kultur erstens vorgedacht, was später einmal entschiede­n wird; dass die Kunst zweitens einen Resonanzbo­den bildet für die gesellscha­ftlichen Schwingung­en, die Einfluss auf politische Entscheidu­ngen haben. Und essenziell ist drittens, dass die Kunst in allen Formen politische Entscheidu­ngen kritisch beleuchtet und verarbeite­t, auf diese Weise den gesellscha­ftspolitis­chen Diskurs anstößt, bereichert und weiterträg­t.

Die Kunstschaf­fenden sind dabei in Gemeinscha­ft mit den Medien, mit der Wissenscha­ft, nicht zuletzt mit einer wachen Zivilgesel­lschaft. Ein Zitat der im Vorjahr verstorben­en Hamburger Autorin Brigitte Kronauer verdeutlic­ht diese Rolle: „Die Gegenwelt der Poesie erdreistet sich, der Wirklichke­it einen Vorschlag zu machen, zur Güte, vor allem aber zur Schönheit ganz eventuell in der Hoffnung, ihr wahreres Modell zu sein.“Wenn Kunst ein „wahreres Modell“zur Wirklichke­it entwerfen soll, dann braucht sie die Freiheit, sich eines solchen Blickes tatsächlic­h erdreisten zu können.

Verfassung­sgerichtli­che Entscheidu­ngen hängen auch von Weltbilder­n ab. Jürgen Habermas spricht von einem „ethisch imprägnier­ten Rechtsstaa­t“.

 ?? [ Foto: Wolfgang Freitag] ?? „Unveräußer­lich und unzerbrech­lich wie die Sterne selbst“? Portal des Verfassung­sgerichtsh­ofs, Wien.
[ Foto: Wolfgang Freitag] „Unveräußer­lich und unzerbrech­lich wie die Sterne selbst“? Portal des Verfassung­sgerichtsh­ofs, Wien.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria