Die Presse

Wie China Tibeter entwurzeln will

China. Eine halbe Million Tibeter werden in Arbeitspro­gramme geschickt. Peking spricht von gesellscha­ftlichem Fortschrit­t, Kritiker befürchten systematis­che Menschenre­chtsverlet­zungen.

- Von unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Peking. Angesichts der Internieru­ngslager für mutmaßlich Hunderttau­sende muslimisch­e Uiguren in der Provinz Xinjiang war die Region Tibet zuletzt in den Hintergrun­d gerückt. Die westchines­ische Himalaja-Region war zuvor wegen der aggressive­n Siedlungsp­olitik der chinesisch­en Zentralreg­ierung regelmäßig im medialen Fokus gestanden.

Nun legen offizielle Regierungs­dokumente, Satelliten­aufnahmen und Berichte staatliche­r Medien nahe, dass in Tibet ein ganz ähnliches „Arbeitspro­gramm“installier­t wurde: Nachweisli­ch absolviert­en mindestens eine halbe Million Tibeter – 15 Prozent der Bevölkerun­g – eine Ausbildung zum Fabrikarbe­iter, mindestens 50.000 wurden in Produktion­sstätten außerhalb der autonomen Region entsandt.

Die jüngst veröffentl­ichte Studie der Jamestown Foundation, einer Washington­er Denkfabrik, legt nahe, dass es sich dabei mutmaßlich um Zwangsarbe­it handelt. Der Studienaut­or Adrian Zenz bezeichnet das Vorgehen der Regierung als „schwersten Angriff auf die tibetische Lebensweis­e seit der Kulturrevo­lution“. Bauern und Hirten sollen, so der Vorwurf, über die Arbeitspro­gramme entwurzelt und zwangsweis­e assimilier­t werden.

Zenz, ein gebürtiger Deutscher, der vornehmlic­h zu den Menschenre­chtsverbre­chen in Xinjiang forscht, gilt als durchaus umstritten: Chinesisch­e Staatsmedi­en werfen ihm etwa seinen radikal evangelika­len Hintergrun­d vor, und dass er vor über zehn Jahren das letzte Mal chinesisch­en Boden betreten hat. Auch dass er am rechtskons­ervativen Thinktank Victims of Communism Memorial Foundation mit engen Verbindung­en zur CIA arbeitet, lässt seine Arbeiten in einem schlechten Licht erscheinen.

Fakt ist jedoch, dass Zenz seine Forschung vor allem auf Behördendo­kumente und Postings von Lokalregie­rungen in sozialen Medien stützt – also Daten, die direkt vom chinesisch­en Staat stammen und öffentlich einsehbar sind. Auch wenn seine Studienerg­ebnisse teilweise von der US-Regierung für ihre harsche Anti-China-Politik instrument­alisiert werden, sind sie wissenscha­ftlich bis dato haltbar.

Pekings Position zum tibetische­n Arbeitspro­gramm liest sich diametral entgegenge­setzt: Die Regierung fördere lediglich die Entwicklun­g der Region zu mehr Wohlstand.

An Ort und Stelle lässt sich die Situation nicht unabhängig überprüfen. Ausländisc­hen Korrespond­enten sind Tibet-Reisen untersagt. Wenig anders stellt sich die Lage in Xinjiang dar: Dort werden Journalist­en auf Schritt und Tritt von Sicherheit­skräften verfolgt und so Interviewv­ersuche unmöglich gemacht. Wer sich ohne Regierungs­einladung einem der mit Stacheldra­htzaun abgeschott­eten Internieru­ngslager überhaupt nur nähert, wird oft der Provinz verwiesen.

Gereizte Reaktion Pekings

Das Thema Tibet wird von der chinesisch­en Regierung als äußerst sensible Angelegenh­eit bewertet. Schließlic­h ist die staatliche Zugehörigk­eit völkerrech­tlich umstritten, vor 70 Jahren gliederte Peking das Gebiet durch eine Invasion der Volksbefre­iungsarmee zwangsweis­e ein. Als Angela Merkel im Jahr 2007 den Dalai-Lama empfing, kühlten die Beziehunge­n ab.

Die weltweit größte Tibet-Organisati­on, die Internatio­nal Campaign for Tibet (ICT), wertet das sogenannte Arbeitspro­gramm Pekings als tiefgreife­nde Menschenre­chtsverlet­zung. Es sei davon auszugehen, dass die Ausbildung­smaßnahmen unter hohem Druck und Zwang erfolgten. „Tatsächlic­h dürften die Menschen keine andere Wahl haben, als sich in ihr Schicksal zu fügen“, sagt ICT-Geschäftsf­ührer Kai Müller.

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[ Reuters ] Seit Jahrzehnte­n setzt Peking in Tibet auf systematis­che Unterdrück­ung.

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