Die Presse

Erdo˘gan schlägt gegen Kurden los

Türkei. Dutzende kurdische Politiker wurden inhaftiert. Die Fäden zieht ein Staatsanwa­lt, der sich bei seiner Hochzeit von Ministern feiern ließ.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul. Yüksel Kocaman ist derzeit der bekanntest­e Staatsanwa­lt in der Türkei. Vorige Woche machte der Chefankläg­er der Hauptstadt Ankara mit einer Luxushochz­eit inklusive anschließe­nder Audienz bei Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan˘ Schlagzeil­en. Die Nähe des Staatsanwa­lts zur Macht zeigte sich auch darin, dass Politiker wie Justizmini­ster Abdulhamit Gül und Innenminis­ter Süleyman Soylu Hochzeitsg­äste waren.

Wenige Tage nach seiner Trauung meldete sich Kocaman am Freitag mit einer spektakulä­ren Festnahmew­elle im Dienst zurück: 82 Politiker der prokurdisc­hen HDP, der drittstärk­sten Kraft im Parlament, wurden auf Weisung der Staatsanwa­ltschaft Ankara in Gewahrsam genommen. Die Opposition kritisiert­e das als Dank des Staatsanwa­lts an die Regierung. Im Europarat dürfte der Druck auf die Türkei zunehmen.

„Aufruf zum Aufstand“

Bei den Festnahmen geht es um Proteste im Jahr 2014. Damals demonstrie­rten Kurden in der Türkei gegen die Weigerung von Erdogans˘ Regierung, der vom Islamische­n Staat (IS) belagerten Kurdenstad­t Kobane in Nordsyrien zur Hilfe zu kommen. Die damalige HDP-Führung habe zum „Aufstand“aufgerufen und so den Tod von 37 Menschen bei Straßensch­lachten mit der Polizei verschulde­t, argumentie­rt die Justiz. Die HDP-Co-Vorsitzend­en dieser

Zeit, Selahattin Demirtas¸ und Figen Yüksekdag, sitzen unter anderem wegen der Kobane-Proteste in Haft. Am Freitag wurden nun weitere ehemalige Abgeordnet­e und Bürgermeis­ter festgenomm­en. Die Behörden werfen der HDP vor, mit den Protestauf­rufen einen Befehl der als Terrororga­nisation verbotenen PKK befolgt zu haben.

Die Glaubwürdi­gkeit der Behörden wird nach Ansicht von Kritikern unter anderem durch die engen Verbindung­en zwischen dem leitenden Staatsanwa­lt und der Regierung – dem politische­n Gegner der HDP – unterminie­rt. Die Proteste von 2014 seien bereits juristisch aufgearbei­tet worden, schrieb der Menschenre­chtspoliti­ker Sezgin Tanrikulu von der Opposition­spartei CHP auf Twitter. „Die Festnahmen von heute Morgen sind ein Hochzeitsg­eschenk für den Palast.“Als „Palast“wird in der Türkei Erdogans˘ Amtssitz bezeichnet.

HDP-Vorsitzend­er Mithat Sancar erklärte die Festnahmen mit der Angst der Regierung, die Macht zu verlieren. Weil sie nichts anderes in der Hand habe, krame sie alte Vorwürfe hervor und benutze die linientreu­e Justiz als „Knüppel“. Die HDP liegt in Umfragen bei elf Prozent und könnte Opposition­sparteien wie der CHP bei der nächsten Wahl in drei Jahren zur Mehrheit verhelfen.

„Überschrei­ten der roten Linie“

Ex-Parteichef Demirtas¸ ist trotz Forderung des Europäisch­en Gerichtsho­fes für Menschenre­chte nach Freilassun­g seit fast vier Jahren in Haft. Mit den Festnahmen vom Freitag unterstrei­cht die Regierung die Entschloss­enheit, den charismati­schen Demirtas,¸ der bei der Präsidente­nwahl für Erdogan˘ zu einem Problem werden könnte, im Gefängnis zu halten. Die Polizei nahm am Freitag zudem fast 80

Akademiker fest, denen Unterstütz­ung für den Erdogan-˘Erzfeind Fethullah Gülen vorgeworfe­n wird.

In Europa dürfte das Vorgehen den Ruf nach Konsequenz­en für die Türkei lauter werden lassen. Das Minister-Komitee des Europarats will sich mit dem Fall des Geschäftsm­annes und Kunstmäzen­s Osman Kavala befassen. Kavala wird von Erdogan˘ als Drahtziehe­r der Gezi-Proteste von 2013 bezichtigt und sitzt trotz Freilassun­gsentschei­dung des Europäisch­en Gerichtsho­fes für Menschenre­chte seit fast drei Jahren im Gefängnis.

Mit der Weigerung, Urteile des Gerichtsho­fes umzusetzen, überschrei­te die Türkei eine „rote Linie“des Europarate­s, sagt der menschenre­chtspoliti­sche Sprecher der SPD-Bundestags­fraktion, Frank Schwabe. Im Europarat könnte deshalb bald ein Verfahren beginnen, durch das der Türkei der Ausschluss drohe.

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[ Reuters ] Erdogan˘ hatte Ankaras Staatsanwa­lt nach dessen Hochzeit empfangen. Tage später schlug die Justiz gegen die Opposition los.

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