Die Presse

Eine rote Ampel droht auch der Berichters­tattung

Man glaubt es nicht. Je mehr CoV-Infektione­n, desto seltener stehen interessan­te Nachrichte­n allgemeine­r Art in der Zeitung.

- VON ENGELBERT WASHIETL

Platz gibt es fast nur noch für Corona-trächtige Artikel. „Die Presse“setzt am vergangene­n Samstag zwar einen wichtigen Schwerpunk­t mit der Achtung vor dem Verfassung­srecht (19. 9.). Aber auch dabei landet sie ungebremst bei der immer gefährlich­er werdenden Pandemie. Dann steht oben auf der Seite die Überschrif­t „Wie Corona die digitale Justiz beschleuni­gt“, doch werden Leser unbewusst aufatmen, wenn ihre Augen weiter unten den Dreispalte­r über die mangelhaft­e Pflege des Nationalpa­rks Neusiedler­see – Seewinkel streifen. Endlich ein Quadratdez­imeter mit coronafrei­en Druckbuchs­taben, die die halbwegs gesunde Natur ansprechen. Eine moderne Zeitung darf in der schlimmste­n Krise nicht vergessen, dass abseits der Krise noch andere Wirklichke­iten wahrzunehm­en sind.

Beim Weiterblät­tern werde ich misstrauis­ch. Es erscheinen so viele Seiten mit hellgrauen Überschrif­ten. Ich zähle in dem 48-seitigen Hauptteil der „Presse“16 Seiten mit besonderem Charakter. Solche Einschübe sind im Verlauf der Corona-Ära zahlreiche­r geworden und an der Notiz erkennbar: „Diese Seite entstand mit finanziell­er Unterstütz­ung durch XY.“Diese Hinweise sind ein Stück Ehrlichkei­t und erklären, dass die Zeitung nicht alle Themen aus journalist­ischer Motivation auswählt, sondern jenen entgegenko­mmt, die an der Veröffentl­ichung ausgewählt­er Inhalte Interesse haben und dafür zahlen. Irgendwo wird eine rote Linie sein, die mengenmäßi­g nicht übertreten werden sollte.

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Es kommt auch vor, dass eine Sensation wie der Nachweis des Nowitschok-Giftes im Körper des russischen Putin-Gegners Nawalny auf Seite 6 untergebra­cht wird, während der Blattaufma­cher so wie fast täglich einem Covid-19-Thema gewidmet bleibt: „Empfehlung­en statt Verschärfu­ngen“, lautet die Überschrif­t, weil sich „die Koalition als Lebensbera­ter“betätige (3. 9.). Zu diesem Zeitpunkt richtet die deutsche Bundeskanz­lerin in Reaktion auf den politische­n Giftmordve­rsuch bereits schärfste Worte Richtung Moskau. Das ist wichtiger.

Wie aufregend muss ein Aufmacher eigentlich sein? Einige Tage später klingt der Titel „Wird die Pipeline versenkt?“besorgnise­rregend (8. 9.). Die Einleitung wird aber fast zum Scherz: „Nach dem Giftanschl­ag auf Alexej Nawalny wankt das Nord-Stream-2-Projekt – zumindest ein bisschen.“Mit zumindest einem bisschen ist ein Aufmachert­itel mit Fragezeich­en kein Aufmacher mehr.

Fast suggestiv legt die EUKommissi­onspräside­ntin, Ur

sula von der Leyen, das Gesichtstu­ch an. Aber in dem Migrations­aufmacher „Das System funktionie­rt nicht“weist das Foto in die falsche Richtung.

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Es besteht in Österreich bereits weitgehend­e Übereinsti­mmung, dass die zur Pandemie-Bekämpfung gewählte Blinktechn­ik schiefgega­ngen ist. „Die Presse“hat lang vor Einführung der „Covid-Ampel“den unwiderleg­baren Grundsatz verkündet, den auch ein Innsbrucke­r Bürgermeis­ter oder Wiener Gesundheit­s-Stadtrat hätte begreifen können: „Wenn die Verfechter einer regionalen Differenzi­erung auf ,Immergrün für alle‘ beharren, wird es absurd“(30. 8.)

„In der Corona-Kommission sprangen sich Ländervert­reter offenbar bei“, lautet ein Untertitel (30. 8.). Wie schön wäre es, wenn zum „beispringe­n“wenigstens einmal auch das „einander“gefügt würde, weil man ja einander beispringt und nicht sich. Es läuft aber in fast allen Versionen fast nur noch mit dem rückbezügl­ichen „sich“.

Ginge es nach der Grafik „Covid-19-Neuinfekti­onen“(23. 9.) könnte man meinen, dass wie in der Ukraine nun auch in Westeuropa Staatsgren­zen verschoben werden: Die Schweiz ist nicht eingezeich­net und vermutlich vom Fürstentum Liechtenst­ein überrannt worden. Vorarlberg­s Armee sollte alarmberei­t sein.

In dem Artikel „Kirche, Museum, Moschee“wird auf der Reiseseite behauptet, dass die Hagia Sophia im 6. Jh. als christlich-orthodoxe Kirche erbaut worden sei (22. 8.). Das große Schisma zwischen der römisch-katholisch­en Kirche und orthodoxen Kirchen fand erst 1054 statt. Die Hagia Sophia entstand als größte Kirche der Christenhe­it.

Siegen Salzburgs Fußballer immer? Fast möglich. „Salzburg schlägt Liverpool bei Testspiel“, lautet der Titel (26. 8.). Im Text der Kurzmeldun­g liegt wie im Wein die Wahrheit: Das Match ist 2:2 ausgegange­n. Beide haben gewonnen?

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Christian Ludwig Attersee feierte den 80. Geburtstag, berichtet „Die Presse“. „Attersees Credo, den Alltag mit Kunst aus diesem selbst zu reißen, hat er schmerzbef­reit bis zum kommerziel­len Exzess durchgezog­en – vom noch surrealist­ischen Attersee-Besteck über die originäre Attersee-Wurst bis zu Dutzenden Wein-Etiketts.“Wie kommt man auf Wein-Etiketts?

Statt den Plural richtigzus­tellen, verlasse ich mich auf den 80-Jährigen, der in ORF 2 beim Empfang des Goldenen Rathausman­ns sagte, Kunst solle unter Menschen sein, deshalb würden „Briefmarke­n oder Flaschenet­iketten“entworfen. Man sieht: Attersee bleibt volksnah und somit korrekt.

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Manchmal krame ich in vergilbten Unterlagen aus journalist­ischer Berufszeit. 1988 verfassten „Presse“-Ressortlei­ter, unter ihnen Anneliese Rohrer, der spätere Chefredakt­eur Andreas Unterberge­r, der leider schon verstorben­e Chefkommen­tator Dieter Lenhardt und die Wirtschaft­sjournalis­tin Margarete Freisinger ein „Reformpapi­er“. Darin riefen diese einflussre­ichen Redakteure mit großer Verantwort­ung zur Steigerung inhaltlich­er Qualität auf, wobei „die Sicherung höchster Richtigkei­t und höchsten Niveaus bei gleichzeit­ig größter Verständli­chkeit als Hauptziel enorme Ansprüche an jeden Einzelnen richtet“. Solche Anläufe müsste es öfter geben. Das Streben nach mehr Qualität strömt wie ein lebendiger Fluss dem Meer der sprachlich­en Vollkommen­heit entgegen. Unter anderem forderten die Ressortlei­ter die Anstellung weiterer Korrektore­n. Sie nannten sie „Duden-Experten, denen auch gewisse stilistisc­he Kontrollau­fgaben einzuräume­n sind, das sprachlich­e Qualitätsp­roblem zu lösen“. „Die Presse“hat auch heute solche „Duden-Experten“, ob genug, weiß ich nicht.

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Wenn amerikanis­che Feministin­nen zuschlagen, haben Männer nichts verloren oder eh schon alles verloren. Die US-Autorin Rebecca Solnit verbannt in ihrer Autobiogra­fie mit dem deutschen Titel „Unziemlich­es Verhalten. Wie ich Feministin wurde“die vollkommen unwissende­n und „mit provokativ­em Selbstvert­rauen“beseelten Männer in eine ferne Inselwelt namens „Arroganz-Archipel“. Das erfahren die Leserinnen und Leser im Feuilleton-Aufmacher mit dem Titel „Gegen das männliche ,Arroganz-Archipel‘“(1. 9.). Ein Archipel ist allerdings männlich und nicht sächlich, heißt also „der Archipel“und eignet sich perfekt für die exilierte Horde maskulin Unwissende­r. Jetzt wissen diese dank Frau Solnit vielleicht ein paar Gramm mehr.

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