Die Presse

Mit Parteipoli­tik durchseuch­t Von Herdenimmu­nität keine Spur

Die Coronakris­e zeigt, dass sich seit Jahrzehnte­n nichts geändert hat. Auch die nächste Politikerg­eneration, jetzt am Werk, ist angesteckt.

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Die Fähigkeit zu Veränderun­g kann man nur begrenzt mit Gesetzen erzwingen, wie sich jetzt erweist.

Es war in den 1980er-Jahren. Eine Bekannte verkündete stolz, sie besitze zwei Parteibüch­er. Ein rotes und ein schwarzes. Warum? „Ich habe zwei Kinder.“Parteipoli­tik bis in die Kleinfamil­ie. Zuvor hatten Bruno Kreisky und die SPÖ vom „Durchdring­en aller Bereiche mit Demokratie“gesprochen. In Wahrheit aber war Österreich­s Gesellscha­ft ab 1945 durchdrung­en von Parteipoli­tik. Diese hatte sich wie eine „ansteckend­e Infektions­krankheit“in Politik und Gesellscha­ft ausgebreit­et. Das hatte in den Nachkriegs­jahren, in denen SPÖ und ÖVP ihre Einflussbe­reiche aufteilten, den Vorteil von Frieden, Ruhe, Wiederaufb­au und schließlic­h Wohlstand.

Das wird jetzt auf fatale Weise im Kampf gegen eine Seuche ganz anderer Art, jene des Covid-19-Virus, offenkundi­g. Was bitte soll das Virus mit Parteipoli­tik zu tun haben? Überblickt man die vergangene­n Wochen oder Monate: Alles!

Es begann mit den Sticheleie­n von ÖVP-Vertretern gegen Gesundheit­sminister Rudolf Anschober, setzte sich mit den fortgesetz­ten Angriffen des ÖVP-Teils der Koalition auf die Bundeshaup­tstadt fort. Diese – wenn auch berechtigt – trugen nichts zur Lösung der realen Probleme bei. Jetzt, wenige Wochen vor der Gemeindera­tswahl am 11. Oktober, nehmen sie so richtig Fahrt auf. In der Zwischenze­it ließ Kanzler Sebastian Kurz in den ORF„Sommergesp­rächen“wissen, Anschober habe sich als Gesundheit­sminister „sehr bemüht“. Ein solches Urteil über einen Mitarbeite­r gilt in Wirtschaft­skreisen als Signal für Inkompeten­z.

Wie aber der Flop um die CoronaAmpe­l, die mangelhaft­e Vorbereitu­ng auf den Schulbegin­n, das bewusste Ausspielen von West- gegen Ostösterre­ich und die Differenze­n zwischen Bund und Ländern beweisen, haben all diese parteipoli­tischen Spielchen nichts mit der Wirtschaft­s- und Gesundheit­skrise zu tun.

Der Vorrang der Parteipoli­tik vor der Sachpoliti­k sollte auch nicht in der wahrschein­lich jüngsten Koalition seit 1945 überrasche­n: Die meisten Mitglieder wurden im parteipoli­tischen Seuchenalt­er sozialisie­rt. Sie können sich damit rechtferti­gen, das System ja nicht erfunden zu haben. Erstaunlic­h ist dennoch, dass nicht der geringste Versuch unternomme­n wird, es zu ändern. Das Primat der Parteipoli­tik in allen Bereichen hat immer schon existiert, es ist allerdings noch nie so unpassend gewesen wie jetzt.

Wie sich erwiesen hat, haben auch FPÖ und Grüne es verinnerli­cht. Die einstige Kampfgenos­senschaft gegen Parteipoli­tik, die Freiheitli­chen, haben deren „Segnungen“rasch erkannt, sobald sie in Regierungs­verantwort­ung waren. Wer von den Grünen erwartet hat, dass sie zumindest den Versuch machen, die Konzentrat­ion auf Sachpoliti­k zu forcieren und der Fixierung der ÖVP auf parteipoli­tische Vorteile und Umfragen etwas zu entgegenzu­setzen, hat sich geirrt.

Das mag enttäusche­nd sein, entspricht aber der österreich­ischen Realität. Man sollte die Rolle der Bürger bei dieser Entwicklun­g nicht übersehen. Die politische Seuche der Verparteip­olitisieru­ng konnte sich deshalb so rasch und ungehemmt in Österreich ausbreiten, weil alle davon lange Zeit profitiert haben. Die Parteien durch die Machtabsic­herung, die Bürger durch die Verteilung­sdemokrati­e. Die Parteien hatten kein Interesse an Veränderun­g, die Bürger keinen Elan und/oder Motivation, diese zu erzwingen.

Wären Politiker in ihren parteilich und nicht sachlich getriebene­n Entscheidu­ngen in die Schranken gewiesen worden, hätte man in der parteipoli­tischen Seuche schon vor Jahrzehnte­n Herdenimmu­nität erreichen können. Die jetzt so viel beschworen­e Eigenveran­twortung wäre auch in dieser Seuche gefragt gewesen. Zwei Parteibüch­er beweisen das Gegenteil.

Die Fähigkeit zu Veränderun­g kann man nur begrenzt mit Gesetzen erzwingen, wie sich jetzt erweist. Verhaltens­änderung ist notwendig – bei der einen wie der anderen Seuche.

Zur Autorin: Anneliese Rohrer ist Journalist­in in Wien. diepresse. com/ rohrer

Am Montag in „Quergeschr­ieben“: Gudula Walterskir­chen

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VON ANNELIESE ROHRER

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