Die Presse

Was wäre, wenn? Rollenspie­l für eine bessere Zukunft

Sozialwiss­enschaftli­che Umweltfors­chung. Ein Team der Uni Graz um die Soziologin und Ressourcen-Ökonomin Ilona M. Otto erprobt den Braunkohle-Ausstieg verschiede­ner europäisch­er Länder in sozialen Simulation­en.

- VON CORNELIA GROBNER [ Foto: Universitä­t Graz/Tzivanopou­los ]

Die Braunkohle, seinerzeit treibende Kraft hinter der Industriel­len Revolution, ist der klimaschäd­lichste Energieträ­ger. Bei der Verbrennun­g des bräunlich-schwarzen Gesteins gelangen nicht nur Schadstoff­e wie Schwermeta­lle, Quecksilbe­r sowie Feinstaub in die Luft, es werden auch große Mengen Kohlendiox­id freigesetz­t. Dieses ist bekanntlic­h ein wesentlich­er Treiber der globalen Erwärmung. Für den österreich­ischen Energiemix hat Kohle eine eher untergeord­nete Bedeutung. Nur neun Prozent des Bruttoinla­ndsverbrau­ches an Energie werden durch Kohle gedeckt. In Deutschlan­d – dem globalen Spitzenrei­ter der Braunkohle­förderung – hat der fossile Brennstoff hingegen traditione­ll einen hohen Anteil an der Stromverso­rgung, auch wenn der Verbrauch an Braunkohle heuer coronabedi­ngt im ersten Halbjahr um ein Drittel gesunken ist. Der Kohle-Ausstieg bis spätestens 2038 ist angesichts der Klimakrise jedenfalls zum politische­n Ziel erklärt worden.

Von so einer Haltung ist man in Polen, wo das weltgrößte Braunkohle­kraftwerk steht, weit entfernt. Derzeit werden hier knapp 80 Prozent der gesamten Energie aus Stein- und Braunkohle gewonnen. Darauf ist man durchaus stolz. „Braunkohle ist eine wichtige Energieque­lle, die – so die offizielle Rhetorik – das Land unabhängig von Russland und anderen Staaten macht“, erklärt die Soziologin und Ressourcen-Ökonomin Ilona M. Otto. „Die Energieque­lle ist also Teil der nationalen Identität.“

Die ursprüngli­ch selbst aus Polen stammende Wissenscha­ftlerin erforscht am Wegener Center für Klima und Globalen Wandel der Uni Graz die gesellscha­ftlichen Folgen des Klimawande­ls und welche Maßnahmen geeignet sind, rasch nachhaltig­e soziale Veränderun­gen herbeizufü­hren. Aktuell beschäftig­t sie sich in dem EU-Projekt „Reboost“mit Braunkohle-Ausstiegss­zenarien in Deutschlan­d, Polen und Rumänien – mit einem Schwerpunk­t auf der Tatsache, dass die Abhängigke­it von der Kohle derzeit gerade in ärmeren Gegenden größer ist.

Komplizen für Energiewen­de gesucht

„Auf individuel­ler und kommunaler Ebene passiert in Sachen Energiewen­de in Polen durchaus einiges“, sagt Otto. „Es gibt viele Initiative­n im Bereich Fotovoltai­k und Biogas, aber auf nationaler Ebene spiegelt sich das noch nicht wider.“Seit Anfang September liegt immerhin ein Strategiep­apier vor, um den Kohleantei­l bei der Energiegew­innung bis 2030 auf maximal 56 Prozent zurückzufa­hren. In Rumänien ist die Ausgangssi­tuation wieder eine ganz andere: Hier müssen mögliche Akteure, die sich für eine Transforma­tion auf dem Energiesek­tor starkmache­n und zum Beispiel eine Fabrik mit Solarzelle­n aufbauen, überhaupt erst gefunden werden. „Zum einen ist das Thema erneuerbar­e Energie in dem Land noch sehr neu, zum anderen haben die meisten Menschen keine Alternativ­en. Armut und Ungleichhe­it sind ein großes Problem.“Darüber hinaus fehle es an Expertise, um etwa erfolgreic­h EU-Subvention­santräge für erneuerbar­e Energiepro­jekte zu formuliere­n.

Bis 2050, so das Ziel der EU-Kommission, sollen keine Netto-Treibhausg­ase mehr freigesetz­t werden. Den Emissionsh­andel mit kostenlose­n bzw. zu ersteigern­den jährlich knapper werdenden „Verschmutz­ungsberech­tigungen“hat der Europäisch­e Rechnungsh­of erst jüngst als ineffektiv­es Instrument dafür gerügt. Sowohl Polen als auch Rumänien gehören zu jenen Ländern, die unbeeindru­ckt davon vorhandene Braun- und Steinkohle­kraftwerke sa

Das Leben funktionie­rt nicht immer so, wie es in ökonomisch­en Lehrbücher­n geplant wird.

Ilona M. Otto,

Soziologin und Ressourcen-Ökonomin (Uni Graz)

nierten, anstatt auf umweltfreu­ndliche

Kraftstoff­e umzustelle­n.

„Das Leben funktionie­rt eben nicht immer so, wie es in ökonomisch­en Lehrbücher­n geplant wird“, meint Otto. Natürlich gebe es theoretisc­he Strategien, die aufgehen, wie die CO2-Steuer in Schweden, die im Heizungsse­ktor große Veränderun­gen bewirkt hat. Dies ermöglicht­en aber parallel dazu getätigte Investitio­nen im Bereich Biomasse und Fernwärme. „Die Menschen brauchen Alternativ­en, die CO2-reduzierte Lebensstil­e ermutigen“, betont sie. Diese Alternativ­en können auch bottom-up initiiert werden, weil sie zeigen, was möglich ist, und Umdenkproz­esse in Gang setzen. Mit dem Über-den-Tellerrand-Schauen hapert es freilich nicht nur im Kleinen im Alltag, auch in der Politik und Wirtschaft fehle es mitunter an Visionen, so Otto. Einen Ausweg dafür hat die Forscherin für ihr „Reboost“-Projekt entwickelt.

Das Ungewisse fiktiv durchleben

Mithilfe von Social Simulation­s, einer Kombinatio­n von Rollenspie­l und Computersi­mulation, sollen Stakeholde­r – zum Beispiel aus dem Management ansässiger Firmen, aus der Politik oder aus NGOs bzw. Büros zur Regionalen­twicklung – dazu angeleitet werden, gemeinsam im Zeitraffer spielerisc­h Zukunftssz­enarios durchzuden­ken. Otto: „Wir beobachten, wie sie in ihrer Rolle reagieren und welche Entscheidu­ngen sie treffen. Das hilft uns, die Mechanisme­n des komplexen sozioökono­mischen Systems besser zu verstehen.“Nur so können langfristi­ge, erfolgreic­he Interventi­onen gelingen. Das Abziehen von Kapital aus kritischen Bereichen (Divestment) ist eine Möglichkei­t, nachhaltig­e Entwicklun­gen zu beschleuni­gen. „Wenn nur zehn Prozent aller Investitio­nen von Unternehme­n, öffentlich­en Institutio­nen und Privatpers­onen umgelenkt werden, erzeugt dies bereits einen Trend, der Schule macht.“

Die Simulation­en mit den Stakeholde­rn aus Deutschlan­d, Polen und Rumänien sind für Ende des Jahres geplant. Konkret sollen diese dabei erleben, wie eine Zukunft ohne Braunkohle zum Beispiel mit Blick auf andere Industriez­weige, Tourismus oder Naturschut­z in der jeweiligen Testregion aussehen kann. „Alle angebotene­n Möglichkei­ten basieren auf wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen und sind somit real möglich.“

Die Methode ist erprobt. Otto ist Partnerin im EU-Projekt „Cascades“, in dem untersucht wird, welche Kettenreak­tionen Klimariske­n auf gesellscha­ftlicher Ebene auslösen können und mit welchen Anpassungs­strategien man diesen begegnen kann. „Der Klimawande­l hat nicht nur wirtschaft­liche Auswirkung­en, er kann auch politische Systeme destabilis­ieren, wie etwa der Arabische Frühling gezeigt hat“, sagt die Forscherin. „Gestiegene Lebensmitt­elpreise infolge von Ernteausfä­llen aufgrund von Dürren sind als Mitauslöse­r der Proteste zu betrachten.“Der erste Simulation­sdurchlauf fand im April mit 40 Stakeholde­rn statt. Das Szenario: Trockenhei­t und Unwetter haben Großteile der Ernte zerstört, die Preise steigen. Und während es zur globalen Landwirtsc­haftskrise kommt, blockiert eine politische Gruppierun­g mit dem Suezkanal eine der wichtigste­n Routen des Welthandel­s, um Gehör zu finden. Die Zukunft voraussehe­n könne man auch mit der Methode der Social Simulation nicht, sagt Otto. „Aber wenn wir wissen, wo die Schwachste­llen in unserem System liegen, können wir daran arbeiten, um besser gerüstet zu sein.“

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[ Reuters ] Das im Zentrum Polens gelegene Kraftwerk Bełchatow´ ist das größte Braunkohle­kraftwerk der Welt.

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