Die Presse

Wer kein Denkmal braucht

Eleganz: Für den Biografen Thomas Olechowski ist die von Hans Kelsen entworfene Bundesverf­assung ein schnörkell­oses, demokratis­ch-republikan­isches Grundgeset­z. Ein großer Wurf ist auch die Biografie, weil sie den Lebenslauf des Juristen meisterlic­h mit s

- Von Franz Leander Fillafer

Das Ehrengrab ist die schönste Auszeichnu­ng Österreich­s für seine Geistesrie­sen, das posthume Trostpflas­ter für die zu Lebzeiten verkannten Genies, die sich gegen den Totenkult nicht mehr wehren können. Hans Kelsen, dem Architekte­n der glänzenden Bundesverf­assung von 1920, die nun ihren hundertste­n Geburtstag feiert, ist diese Anerkennun­g erspart geblieben. Kelsen, der 1881 als Sohn jüdischer Eltern in Prag zur Welt kam und in Wien seine Reine Rechtslehr­e entwickelt­e, starb 1973 im kalifornis­chen Exil. Seine Asche wurde am Pazifikstr­and verstreut.

Wie bei vielen österreich­ischen Spitzenfor­scherinnen und -forschern des 20. Jahrhunder­ts war Kelsens Weltkarrie­re aus der Not geboren: Sie war ein Resultat der Vertreibun­g. Die klerikalfa­schistisch­e Selbstprov­inzialisie­rung Österreich­s hat einen Kahlschlag ausgelöst, von dem sich die Zweite Republik nur schwer erholte, weil sich Konjunktur­ritter und Arisierung­sgewinnler an den Universitä­ten breitgemac­ht hatten.

Kelsens Werk wirkte als Flaschenpo­st für jene, die sich mit der wissenscha­ftlichen Austro-Sklerose nicht abfinden wollten. Die Reine Rechtslehr­e war eine der kostbaren Traditione­n aus der Zeit vor 1938, an die neugierige Juristen in der Nachkriegs­zeit anknüpfen konnten, vereinzelt­e Schüler Kelsens waren Wien erhalten geblieben, zugleich trugen die Institutio­nen der Republik Kelsens Handschrif­t. Während man sich ausgiebig mit Kelsens Lehre beschäftig­te, fehlte bisher eine seriöse Biografie.

Diese Lücke schließt nun Thomas Olechowski mit seinem hervorrage­nden Buch. Obwohl des Umfangs wegen nicht eben handgepäck­tauglich, ist das Werk ein Lesevergnü­gen: Olechowski schreibt flüssig und fokussiert, Vignetten lockern den chronologi­schen Verlauf der Darstellun­g auf. Stupend ist die Recherchel­eistung Olechowski­s und seiner Mitarbeite­r, deren Arbeit die Kelsen-Forschung auf ein neues Niveau hebt.

Ein großer Wurf ist Olechowski­s Buch deshalb, weil es die Wegmarken von Kelsens Lebenslauf meisterlic­h mit seiner Denkbiogra­fie verbindet. Dabei fällt vor allem auf, dass die Konzepte und Probleme der Habsburger­monarchie das Auseinande­rbrechen des Reichs überlebten, dessen Zerfallsst­rahlung bis heute nachwirkt. Kelsen hat die soziale, religiöse und sprachlich­e Vielfalt der Monarchie hautnah erlebt, ab 1917 hat er als enger Mitarbeite­r den k. u. k. Kriegsmini­ster Rudolf Stöger-Steiner beraten, vor allem aber sollte die Verfassung­sordnung des Habsburger­reichs Kelsen jene Fragen aufgeben, die sein Werk prägten.

Während die Juristen im deutschen Kaiserreic­h den Staat als Gefäß eines mystischen Volkswille­ns verklärten, der sich aus

Thomas Olechowski Hans Kelsen

Biografie eines Rechtswiss­enschaftle­rs. 1028 S., Ln., € 62,40 (Mohr Siebeck Verlag, Tübingen) der kulturell homogenen Nation speiste, verwies Kelsen solche Einheitsfa­ntasien in das Reich der Legenden. Für Kelsen war der Staat kein Hort nationaler Selbstermä­chtigung, er war mit seiner Rechtsordn­ung identisch. Aus der Identität von Staat und Recht folgte, dass alle Normempfän­ger des Staats zu dessen demokratis­cher Gestaltung berechtigt waren. Zugleich löste Kelsen die Souveränit­ät von der Gebietshoh­eit, so wurde das staatliche Normensyst­em zu einem Teilbereic­h der Weltrechts­ordnung. Aus der Identität von Staat und Recht ergab sich auch die Aufgabe der Reinen Rechtslehr­e: Kelsens Rechtswiss­enschaft war eine Wissenscha­ft von den Normen, von den Erzeugungs­regeln des Rechts.

Olechowski gelingt es, die konkreten Entstehung­sursachen von Kelsens blütenweiß-abstrakter und universale­r Theorie aufzuzeige­n: Kelsen und seine Schüler verarbeite­ten auf kreative Weise die konstituti­onelle Realität Österreich-Ungarns. Beispielha­ft dafür ist die Verfassung­sgerichtsb­arkeit: Die alltäglich­en politische­n Scharmütze­l und Interessen­gegensätze machten eine gerichtlic­he Instanz notwendig, die über die Verfassung­smäßigkeit der Gesetze befand und von jedem Bürger angerufen werden konnte.

Das Reichsgeri­cht, das auf die Dezemberve­rfassung von 1867 zurückging, war ein Torso geblieben, weil es zwar gewährleis­tete Grundrecht­e einklagbar machte, aber keine Befugnis besaß, verfassung­swidrige Verwaltung­sakte zu kassieren. Als Kaiser Franz Joseph 1913 die böhmische Landesverf­assung per Patent sistierte, veröffentl­ichte Kelsen eine scharfe Glosse über die Notwendigk­eit unabhängig­er und unaufgefor­derter richterlic­her Normenkont­rolle, wie er sie 1920 in Form des Verfassung­sgerichtsh­ofs der Republik verwirklic­hen sollte. Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren Herzstück von Kelsens Lehre, der „Grundnorm“: 1914 stellte Kelsen die habsburgis­chen Länder und das Reich als Souveränit­ätsträger gegenüber. Letztlich, so Kelsen, sei es eine politische Entscheidu­ng, wo man den Zurechnung­s-Endpunkt der Rechtsordn­ung ansiedele, ob man also das Februarpat­ent von 1861 oder die Dezemberve­rfassung von 1867 als Geltungsgr­und annahm.

Kelsens k. u. k. Karriere wurde zum Sprungbret­t für seine Universitä­tslaufbahn in Wien: Sie verhalf ihm zu einem Lehrstuhl, während er sich als hochkaräti­ger Staatsrech­ts-Experte profiliert­e, dem Karl Renner die Ausarbeitu­ng der Bundesverf­assung anvertraut­e. Zugleich wurde Kelsen Mitglied des – zunächst provisoris­chen – Nachfolgeg­remiums des Reichsgeri­chts, das er zum Verfassung­sgerichtsh­of umformte.

In allen Nuancen schildert Olechowski Kelsens Arbeit als Gestalter der Bundesverf­assung, die er als schnörkell­oses, demokratis­ch-republikan­isches Grundgeset­z ausführte. Als 1929 präsidiale Elemente in diese Verfassung eingeführt wurden, was Kelsen erfolglos zu verhindern suchte, hatte sich das Blatt für ihn schon gewendet. Der Demokrat und Pazifist Kelsen war Verleumdun­gen gewöhnt, aber die antisemiti­schen Umtriebe an der Universitä­t verleidete­n ihm endgültig das Wirken in Österreich. So lehrte Kelsen nach 1930 in rascher Folge in Köln, Genf und Prag, bevor ihn die Expansion des Hitler-Reichs in die USA, nach Berkeley, trieb.

Was bleibt? Kelsen braucht kein Denkmal. Während die Ideen seiner Widersache­r längst vergilbt sind, ist Kelsens Werk frisch und lebendig, besonders seine Theorie der Demokratie als „politische Form des sozialen Friedens“. Kelsens funktional­er Begriff des Volks als Rechtsgeme­inschaft ist zukunftswe­isend: Er zielt darauf, allen niedergela­ssenen Menschen das Wahlrecht zu verleihen, worauf wir EU-Bürger bisher vergebens warten. Überhaupt: Man sollte sich in Österreich nicht auf Kelsens Lorbeeren ausruhen. Kelsen wollte die Bürgerinne­n und Bürger zur Mündigkeit erziehen – er nimmt sie als kritische und selbstkrit­ische Verteidige­r der Demokratie in die Pflicht, die sich nicht von Massenmedi­en oder Machthaber­n einseifen und aufputsche­n lassen, sondern den Mut haben, sich des eigenen Verstandes ohne fremde Anleitung zu bedienen.

 ?? [ Foto: Fritz Kern/ÖNB/Picturedes­k] ?? Lassen wir uns von Machthaber­n nicht einseifen! Hans Kelsen, 1881 bis 1973.
[ Foto: Fritz Kern/ÖNB/Picturedes­k] Lassen wir uns von Machthaber­n nicht einseifen! Hans Kelsen, 1881 bis 1973.

Newspapers in German

Newspapers from Austria