Die Presse

„Der Kreml hat zum ersten Mal Angst“

Interview. Die russischen Geheimdien­stexperten Irina Borogan und Andrej Soldatow gehen davon aus, dass Präsident Putin die Vergiftung Nawalnys abgesegnet hat.

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

Die Presse: Warum setzen russische Geheimdien­ste ausgerechn­et Gift gegen ihre Gegner ein?

Irina Borogan: Viele fragen: Wäre es nicht einfacher, Menschen zu erschießen? Natürlich. Gift erzielt allerdings einen anderen psychologi­schen Effekt: Angst. Gift schüchtert ein, das ist schrecklic­her als Erschießen. Mit dem Opfer leiden Familie und Freunde und dank sozialer Medien die Öffentlich­keit. Als Boris Nemzow erschossen wurde, war das für viele ein tragisches Ereignis. Aber als die beinahe unbekannte­n Skripals vergiftet wurden, waren alle über Nowitschok schockiert. Gift ist effektiver psychologi­scher Terror.

Welche Botschaft hat das „Staatsgift“Nowitschok?

Andrej Soldatow: Bei Nowitschok und auch Polonium, mit dem Alexander Litwinenko vergiftet wurde, kann man die russische Spur schwer abstreiten. Man sendet eine Botschaft an alle, die im Land sind und außerhalb: Wie weit weg ihr auch seid, wir können euch aufhalten.

Borogan: Beide Gifte hinterlass­en Spuren, die man finden kann. Das ist Absicht. Man sagt damit: Ja, das sind wir, der Staat. Fürchtet euch!

Was halten Sie von der Theorie, dass Wladimir Putin vom Anschlag auf Alexej Nawalny nichts gewusst hat?

Soldatow: Solche Dinge hören wir seit 20 Jahren. Ich sage dazu nur: Die Geheimdien­ste heute unterschei­den sich von jenen des Jahres 2010 oder 2005. Seit ungefähr fünf Jahren befinden sich die Dienste unter viel stärkerer Kontrolle des Kreml als früher. Damals begannen die zielgerich­teten Repression­en Putins gegen den eigenen Apparat. Gouverneur­e, Minister, Offiziere sind in Haft. Das Ziel ist, keine selbststän­digen Operatione­n zuzulassen, um die politische Stabilität nicht zu gefährden. Daher sind solche Einsätze ohne vorherige politische Konsultati­on extrem unwahrsche­inlich.

Eine Aktion gegen ein prominente­s Opfer wie Nawalny wird also von höchster Stelle abgesegnet?

Soldatow: Sehr wahrschein­lich, ja.

Die russischen Behörden reagieren auf die Anschuldig­ungen mit einer Kakofonie an Versionen. Warum reagiert man so? Ist das eine Handlungsa­nleitung des KGB?

Borogan: Zur KGB-Methode zählte das Abstreiten der Tat, gefolgt vom Schlechtma­chen des Opfers. Kurz gesagt: Man zerstört seinen Ruf. Was wir im Fall Nawalny sehen, übersteigt alles Bekannte. Die Reaktion ist chaotisch und inadäquat. Der Kreml hat zum ersten Mal richtig Angst. Man fürchtet die internatio­nalen Folgen.

Soldatow: Putin gab im Gespräch mit Macron erstmals zu, dass Nowitschok verwendet wurde. Das zeugt von Panik. Offenbar glaubte man fälschlich­erweise, dass man wie vor 20 Jahren sagen kann: Das ist unsere interne Angelegenh­eit, unser Dissident.

Wovor hat der Kreml Angst?

Borogan: Dass Nord Stream 2 beendet wird. Dass Beamte und Oligarchen auf eine Sanktionsl­iste kommen.

Nawalny will nach Russland zurückkehr­en. Ist das nicht hochgefähr­lich?

Borogan: Natürlich. Er ist sehr mutig.

Soldatow: Leider ist unvorherse­hbar, was mit ihm passieren wird.

Wie wird der Kreml mit ihm umgehen?

Borogan: Der Kreml kontrollie­rt das Fernsehen. Daher kann man problemlos weiterhin so tun, als gäbe es keinen Nawalny. Nawalny hat sein eigenes Internetpu­blikum, es wird zweifellos wachsen. Warten wir ab, wer gewinnt. Soldatow: Der Kreml lebt in seiner eigenen Realität – einer von Bedrohunge­n und Verschwöru­ngen. Für ihn sind der Fall Nawalny, die Demos in Chabarowsk und Belarus eine große Verschwöru­ng mächtiger Spieler, die Russland zerstören wollen. Ich erinnere mich an die Moskauer Proteste 2011/12. Sie waren nicht besonders groß – 100.000 Menschen. Aber die Geheimdien­stler waren überzeugt, dass die USA dahinterst­ehen.

Wie erfolgreic­h können die russischen Geheimdien­ste mit repressive­n Methoden heutzutage sein?

Borogan: Die Geheimdien­ste sind hierarchis­ch organisier­t, sie kommen mit der heutigen netzwerkar­tigen Realität nicht zurecht. Beispiel Internetze­nsur: Die Erfolge sind mäßig, Inhalte kommen durch. Aber ihre starke Seite ist die Repression, die Angstmache . . .

Soldatow: . . . und das historisch­e Gedächtnis. Manchmal reicht eine kleine Erinnerung. Dann verstehen Menschen in Russland, dass es besser ist, nichts zu tun und sich nicht einzumisch­en.

In Ihrem Buch schildern Sie, wie zaristisch­e, sowjetisch­e und heute russische Geheimdien­ste gegen Gegner im Ausland vorgehen. Seit wann sind politische Morde üblich?

Borogan: Unter dem Zaren wurden Menschen verbannt, aus dem Land geworfen oder flohen selbst. Aber die Behörden liquidiert­en ihre politische­n Gegner im Ausland nicht. Dagegen begann die Sowjetmach­t mit ihrer ersten Geheimpoli­zei, der Tscheka, sofort mit der Tötung ihrer Gegner. Anfangs waren das Menschen, die ihre ausgesproc­henen Feinde waren: Vertreter der Weißen etwa. Sehr schnell ging man dazu über, auch Kollegen zu töten, sogenannte Abweichler oder Feinde Stalins. Stalin war überhaupt der größte Auftraggeb­er solcher Morde, sein Hauptmotiv war Paranoia. Erst unter Jelzin wurden keine Morde an politische­n Emigranten mehr verübt. Als Putin an die Macht kam, begannen die Liquidatio­nen wieder – und zwar mit größerer Intensität als nach dem Zweiten Weltkrieg.

Gibt es systemisch­e Unterschie­de zwischen russischen und anderen Geheimdien­sten, die ja auch Gegner ausschalte­n?

Borogan: Sie töten keine eigenen Staatsbürg­er. Das ist ein großer Unterschie­d. Die Verbrechen russischer Dienste treffen russische Bürger – politische Gegner des Kreml.

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