„Beitrittsgespräche mit der Türkei sofort beenden“
Interview. Der Fraktionschef der EVP im Europaparlament, CSU-Politiker Manfred Weber, über Migration und die Türkei.
Die Presse: Die EU-Kommission hat diese Woche einen Vorschlag zur Reform des europäischen Asylsystems präsentiert, der im Krisenfall einen Mechanismus für verpflichtende Solidarität beinhaltet: EU-Länder sollen entweder Flüchtlinge aufnehmen oder deren Abschiebung organisieren. Was halten Sie davon?
Manfred Weber: Der Vorschlag ist eine gute Balance zwischen der notwendigen Härte und Kontrolle an der Außengrenze und der Solidarität im Inneren. Das Thema Migration ist hoch emotional, und die EU ist in der Pflicht, Lösungswege aufzuzeigen. Dazu müssen wir das Momentum nützen und eine Einigung unter deutscher Ratspräsidentschaft bis Jahresende anstreben. Vielleicht kann man beim Treffen der Staats- und Regierungschefs im Dezember den gordischen Knoten durchschlagen. Tun wir das nicht, wird sich das Zeitfenster für eine Antwort der Migrationsfrage wahrscheinlich für lange Zeit schließen.
Die Frage der Verteilung Tausender gestrandeter Menschen in den EU-Mittelmeerländern ist mit dem Kommissionspapier aber nicht gelöst.
Wer über die Gerechtigkeitsfrage spricht, muss sich die Lage anschauen: Deutschland, Frankreich und Spanien haben in den vergangenen Jahren 50 Prozent aller Flüchtlinge aufgenommen, auch Österreich hat sich proportional zur Einwohnerzahl sehr stark beteiligt. Das ist eine einseitige Belastung. Dennoch muss Europa der Kontinent der Humanität bleiben.
Verstehen Sie in diesem Zusammenhang die Position Österreichs, vorerst keine weiteren Flüchtlinge aufzunehmen?
Österreich hat in den vergangenen Jahren enorm viel geleistet. Deshalb hab ich schon ein gewisses Verständnis dafür, dass man auch von anderen EU-Staaten deren Beitrag einfordert. Ich habe die österreichische Bundesregierung so verstanden, dass sie an dem vorliegenden Gesetzestext konstruktiv mitarbeiten will. Wir werden erst dann Offenheit dafür gewinnen, Menschen in Not Obdach anzubieten, wenn die Außengrenzen geschützt sind – und die Chance auf eine Einigung wird größer werden, wenn klar ist, dass der unkontrollierte Zustrom von 2015 sich nicht wiederholt.
Ihr Innenminister und Parteifreund Seehofer sagt, die Position von Kanzler Kurz mache ihn „wirklich traurig“. Sie auch?
Ich respektiere die Entscheidung der Mitgliedstaaten. Wir sind in einem unkoordinierten Zustand, in dem die Rechtslage in Europa noch nicht ganz eindeutig ist. Viele haben Angst vor einem Pull-Effekt, dass also einseitige Entscheidungen Sogwirkungen zur Folge haben. In Griechenland hatte man Sorge, dass durch die Zusage, Menschen aus Moria aufzunehmen, auch in anderen Flüchtlingsunterkünften auf den Ägäis-Inseln Camps angezündet werden – in der Hoffnung: Dann dürfen wir nach Deutschland. Wir brauchen eine Gesamtlösung, die beide Seiten einschließt: Grenzsicherung und Hilfe für Menschen, die unseren Schutz benötigen.
Die Visegrad-´Länder haben den Vorschlag der Kommission bereits zurückgewiesen. Wie sollen sie überzeugt werden?
Der Vorschlag ist eine Gesprächsbasis. Im Süden herrscht Unzufriedenheit, dass es nicht zur verpflichtenden Verteilung kommt. In der Visegrad-´Gruppe gibt es die Sorge vor einem verbindlichen
Mechanismus. Insgesamt erlebe ich aber europaweit den Willen, nach einer Lösung zu suchen.
Wenn es um Abschiebungen geht, die jetzt härter durchgesetzt werden sollen, stellt sich die Frage: Wieso sollte die Kooperation mit den Herkunftsländern künftig besser funktionieren?
Die Herkunftsländer müssen sich bewusst machen, dass sie von der EU keine neuen Gelder, Zusammenarbeit bei legaler Migration oder Zugang zu unserem Binnenmarkt erwarten können, wenn sie andererseits nicht bereit sind, ihre abgelehnten Staatsbürger zurückzunehmen. Bisher haben wir versucht, Rückführungsabkommen singulär zu verhandeln, was leider nicht sehr erfolgreich war. Künftig zieht Europa die Zügel an und sagt: Wir wollen gern eng mit euch zusammenarbeiten, aber dafür müsst auch ihr euren Beitrag leisten. Diese neue Klarheit ist aus meiner Sicht überfällig.
Apropos Härte: Die Beziehungen der EU zur Türkei sind infolge des Erdgasstreits mit Griechenland auf einem neuen Tiefpunkt. Österreich setzt sich für neue Sanktionen ein.
Europa muss mit den griechischen und zypriotischen Freunden zusammenstehen und klar Position beziehen. Es kann nicht sein, dass der deutsche Außenminister, Heiko Maas, nach Athen fliegt und sagt, er sei ein „fairer Vermittler“. Ich hoffe, dass die Mitgliedstaaten beim EUGipfel nächste Woche deutlich machen, dass sie zu Sanktionen fähig und willens sind, wenn die türkische Führung provoziert.
Die Regierung in Berlin ist da zurückhaltender. Hat sich die EU in der Flüchtlingskrise zu sehr von Ankara abhängig gemacht?
Wir wollen ein partnerschaftliches Miteinander. Aber der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ darf Flüchtlinge nicht als politische Waffe einsetzen.
Hat es in dieser Gemengelage noch Sinn, die Türkei als Beitrittskandidaten zu führen?
Die Beitrittsverhandlungen zwischen EU und Türkei müssen beendet werden. Wichtig ist der Eintritt in eine neue Phase. Wenn die Türkei sich konstruktiv verhält, sind wir bereit, über die Vertiefung der Zollunion zu reden. Entscheidend ist aber die Frage: Gibt es in Ankara jemanden, der diesen Ball aufnehmen will? Das war die vergangenen Wochen und Monate leider nicht der Fall.