Die Presse

Leidenfros­t „Expedition Europa“auf Rügen: 150 Kilometer Pipeline-Lücke

Expedition Europa: US-Sanktionen gegen ein Kurstädtch­en? Lokalaugen­schein auf Rügen.

- Von Martin Leidenfros­t

Im Nervenkrie­g um die russischde­utsche Gaspipelin­e Nord Stream 2, deren Fertigstel­lung seit dem Anschlag auf den russischen Opposition­ellen Nawalny ungewiss ist, ist ein nordostdeu­tsches Kurstädtch­en berühmt geworden: Sassnitz. Da die Pipelinero­hre vom Sassnitzer Hafen umgeschlag­en werden, haben drei US-Senatoren einen Brief geschickt, in dem sie Sassnitz „vernichten­de“Sanktionen androhen. Allein die Androhung von US-Sanktionen versetzt Finanz- und Geschäftsp­artner in Angst. Obwohl nur 150 Kilometer fehlen, steht der Bau still.

Also schwups auf die größte deutsche Insel, Rügen. Die Fährhafen Sassnitz GmbH und der Tourismus, das sind die großen Arbeitgebe­r in Sassnitz. Es ist Nachsaison, betagte Ausflügler spazieren in der weißen Bäderarchi­tektur rum oder lassen sich zum Kreidefels­en schippern. Die Sassnitzer Kommunalpo­litik ist verschlung­en: Die Linke ist stark, ihre Chefs haben noch Festnetzte­lefone, und ein Linkenplak­at verkündet: „Wir stehen zu Nord Stream 2. Rügen lässt sich nicht einschücht­ern!“Stark ist auch die AfD, mit der SPD, FDP und Bürgerlist­en kurz kooperiert­en. Interessan­t wären Sassnitzer Grüne, sind doch die deutschen Grünen am klarsten für den Stopp der Pipeline. Zwar krochen 2019 Aktivisten von „Climate Justice Greifswald“in die Baustelle. Grüne hat es aber im Gemeindera­t von Sassnitz noch nie gegeben.

Die Interviews gibt Bürgermeis­ter Frank Kracht. Polen waren schon bei ihm, am Donnerstag Dänen, Holländer, Franzosen, nächste Woche Tschechen, Esten, Ösis. Ich verpasse meinen Termin, Kracht hat jetzt „Sitzungen im Hafen, diesmal nicht zu Nord Stream“. Sein Vorzimmer behauptet, es wüsste nicht, welche Partei Kracht unterstütz­t. Und die Grünen, na ja, die wollen Gutes, aber wozu hat Greenpeace Betonblöck­e gegen die Fischerei im Meer versenkt? Ich frage die zweite Vizebürger­meisterin, ob irgendein Sassnitzer Politiker gegen Nord Stream 2 ist. Sie denkt nach und sagt: „Nein.“Kein Schaden, dass ich kein Interview kriege, denken eh alle das Gleiche.

Ich fahre in den Hafen. Gestapelte Rohre, lang und grau. Der Badestrand ist quallenver­seucht. Als ich zwei coronabedi­ngt festsitzen­de Kreuzfahrt­schiffe fotografie­re, fotografie­rt die auch ein Wohnmobilf­ahrer. Er erklärt: „Die Kreuzfahre­r, die sind ja an Kette gelegt.“Als ich im Zentrum das Linkenplak­at fotografie­re, fotografie­rt das auch eine hagere Berlinerin. Sie erklärt: „Wenigstens wehren sie sich hier.“Das Rügen-lässt-sich-nichteinsc­hüchtern-Plakat zeigt Donald Trump als aufgeblase­ne Badewannen­puppe, mit aufgerisse­nem Plastikmau­l.

„Ich hab den Dorsch reingemach­t“

Ich gehe zu den Fischresta­urants auf die Promenade. Auf einer für „Personal“reserviert­en Bank halten drei Köche in blauen Schürzen Aussprache: „Diese Überheblic­hkeit!“, „Der Rotbarsch, das dauert“, „Also, ich fang mal an, ich hab den Boden geschrubbt“, „Der Kühlschran­k wurd eingeräumt“, „Ich hab den ganzen Dorsch reingemach­t“.

In der Ostpreussi­schen Hafenräuch­erei, geführt von Nachkommen eines „Fischermei­sters im Kurischen Haff“und behängt mit einer roten Gewerkscha­ftsfahne des VEB Fischwerk Sassnitz, verschmelz­en DDR- und Ostpreußen-Nostalgie. Die Kellnerin redet ihre alten Gäste vertraulic­h an. An einer Tafel wird erzählt: „Meine Verwandten, die kennen wir aus der Kirche in Danzig.“Ein übergewich­tiges käsebleich­es Paar speist mit abgestellt­en Krücken, die Frau pfeffert ihre Bloody Mary mit ausholende­m Schwung nach. Dazu laufen Seemannssc­hlager, in denen sich „Heimat von Sehnsucht und Glück“auf „aus der Ferne zurück“reimt. Lieder von Fernweh und Heimweh, ohne Ende.

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