Leidenfrost „Expedition Europa“auf Rügen: 150 Kilometer Pipeline-Lücke
Expedition Europa: US-Sanktionen gegen ein Kurstädtchen? Lokalaugenschein auf Rügen.
Im Nervenkrieg um die russischdeutsche Gaspipeline Nord Stream 2, deren Fertigstellung seit dem Anschlag auf den russischen Oppositionellen Nawalny ungewiss ist, ist ein nordostdeutsches Kurstädtchen berühmt geworden: Sassnitz. Da die Pipelinerohre vom Sassnitzer Hafen umgeschlagen werden, haben drei US-Senatoren einen Brief geschickt, in dem sie Sassnitz „vernichtende“Sanktionen androhen. Allein die Androhung von US-Sanktionen versetzt Finanz- und Geschäftspartner in Angst. Obwohl nur 150 Kilometer fehlen, steht der Bau still.
Also schwups auf die größte deutsche Insel, Rügen. Die Fährhafen Sassnitz GmbH und der Tourismus, das sind die großen Arbeitgeber in Sassnitz. Es ist Nachsaison, betagte Ausflügler spazieren in der weißen Bäderarchitektur rum oder lassen sich zum Kreidefelsen schippern. Die Sassnitzer Kommunalpolitik ist verschlungen: Die Linke ist stark, ihre Chefs haben noch Festnetztelefone, und ein Linkenplakat verkündet: „Wir stehen zu Nord Stream 2. Rügen lässt sich nicht einschüchtern!“Stark ist auch die AfD, mit der SPD, FDP und Bürgerlisten kurz kooperierten. Interessant wären Sassnitzer Grüne, sind doch die deutschen Grünen am klarsten für den Stopp der Pipeline. Zwar krochen 2019 Aktivisten von „Climate Justice Greifswald“in die Baustelle. Grüne hat es aber im Gemeinderat von Sassnitz noch nie gegeben.
Die Interviews gibt Bürgermeister Frank Kracht. Polen waren schon bei ihm, am Donnerstag Dänen, Holländer, Franzosen, nächste Woche Tschechen, Esten, Ösis. Ich verpasse meinen Termin, Kracht hat jetzt „Sitzungen im Hafen, diesmal nicht zu Nord Stream“. Sein Vorzimmer behauptet, es wüsste nicht, welche Partei Kracht unterstützt. Und die Grünen, na ja, die wollen Gutes, aber wozu hat Greenpeace Betonblöcke gegen die Fischerei im Meer versenkt? Ich frage die zweite Vizebürgermeisterin, ob irgendein Sassnitzer Politiker gegen Nord Stream 2 ist. Sie denkt nach und sagt: „Nein.“Kein Schaden, dass ich kein Interview kriege, denken eh alle das Gleiche.
Ich fahre in den Hafen. Gestapelte Rohre, lang und grau. Der Badestrand ist quallenverseucht. Als ich zwei coronabedingt festsitzende Kreuzfahrtschiffe fotografiere, fotografiert die auch ein Wohnmobilfahrer. Er erklärt: „Die Kreuzfahrer, die sind ja an Kette gelegt.“Als ich im Zentrum das Linkenplakat fotografiere, fotografiert das auch eine hagere Berlinerin. Sie erklärt: „Wenigstens wehren sie sich hier.“Das Rügen-lässt-sich-nichteinschüchtern-Plakat zeigt Donald Trump als aufgeblasene Badewannenpuppe, mit aufgerissenem Plastikmaul.
„Ich hab den Dorsch reingemacht“
Ich gehe zu den Fischrestaurants auf die Promenade. Auf einer für „Personal“reservierten Bank halten drei Köche in blauen Schürzen Aussprache: „Diese Überheblichkeit!“, „Der Rotbarsch, das dauert“, „Also, ich fang mal an, ich hab den Boden geschrubbt“, „Der Kühlschrank wurd eingeräumt“, „Ich hab den ganzen Dorsch reingemacht“.
In der Ostpreussischen Hafenräucherei, geführt von Nachkommen eines „Fischermeisters im Kurischen Haff“und behängt mit einer roten Gewerkschaftsfahne des VEB Fischwerk Sassnitz, verschmelzen DDR- und Ostpreußen-Nostalgie. Die Kellnerin redet ihre alten Gäste vertraulich an. An einer Tafel wird erzählt: „Meine Verwandten, die kennen wir aus der Kirche in Danzig.“Ein übergewichtiges käsebleiches Paar speist mit abgestellten Krücken, die Frau pfeffert ihre Bloody Mary mit ausholendem Schwung nach. Dazu laufen Seemannsschlager, in denen sich „Heimat von Sehnsucht und Glück“auf „aus der Ferne zurück“reimt. Lieder von Fernweh und Heimweh, ohne Ende.