„Verfassungsvater“Gaismair.
Unser Verfassungserbe geht historisch sehr weit zurück: zu Michael Gaismairs „Tiroler Landesordnung“von 1526. Erinnerung an einen vergessenen „Verfassungsvater“. Von Erwin Schranz.
Das Geburtsdatum unserer Verfassung wird üblicherweise mit 1. Oktober 1920 angesetzt. Unser Verfassungserbe geht aber historisch sehr viel weiter zurück: zu Michael Gaismairs
„Tiroler Landesordnung“von 1526. Erinnerung an einen vergessenen „Verfassungsvater“.
Im Jahre 2019 stand die österreichische Bundesverfassung auf dem Prüfstand. Bundespräsident Van der Bellen lobte die „Schönheit und Eleganz“unserer Verfassung. Tatsächlich bewährte sie sich in einer ernsten Krisensituation nach der „Ibiza-Affäre“überraschend gut. Die im Jahre 1920 erlassene Bundesverfassung ist nun 100 Jahre alt und soll gebührend gefeiert werden. Unser Verfassungserbe geht aber historisch, ohne dass es uns allen bewusst ist, deutlich weiter zurück.
In der österreichischen Verfassungsgeschichte ragen zwei Persönlichkeiten heraus: Hans Kelsen (1881 bis 1973), der oft als „Baumeister“oder „Architekt“der Bundesverfassung bezeichnet wird. Er hat als Rechtspositivist und Schöpfer der „Reinen Rechtslehre“internationale Bedeutung erlangt. Genauso stolz können wir auf Michael Gaismair (1490 bis 1532) sein, der schon 400 Jahre davor mit seiner „Tiroler Landesordnung“von 1526 einen Verfassungsentwurf vorgelegt hat, der – lange vor der berühmten, vorbildhaften US-amerikanischen Verfassung von 1776 – ein modernes, heute noch aktuelles Paket an Verfassungs- und Grundrechtsbestimmungen schuf. Dieses wurde allerdings nach Bauernkrieg und Reformations- und Gegenreformationswirren ins Abseits gedrängt und sollte einem bewussten Verdrängen und Vergessen anheimfallen.
Die meisten Prinzipien aus Gaismairs Verfassung halten auch heute noch modernen Anforderungen stand: Der Gleichheitsgrundsatz wird streng durchgezogen, alle Vorrechte von Adel und kirchlicher Hierarchie werden aufgehoben. Die Freiheit der Menschen wird allein am biblischen Wort gemessen und die Leibeigenschaft abgeschafft.
Das republikanisch-demokratische Prinzip mit allgemeinen Wahlen ist schon damals durchgängig verankert: demokratische Wahlen sowohl in der Gemeinde als unterer Ebene mit dem Richter und den Geschworenen (noch als Doppelfunktion in Verwaltung und Rechtsprechung) als auch bei der Bestellung der höchsten Organe (Regierung); ihre Unabhängigkeit und Unbeeinflussbarkeit wird durch eine staatliche Besoldung garantiert. Die Interessen und der Schutz der Verbraucher dominieren vor dem Produzentenschutz, der im Interesse des Allgemeinwohls einer staatlichen Kontrolle unterliegt. Spekulationen werden unterbunden, Zins und Wucher beschränkt, notfalls kommen Vergesellschaftungen zum Tragen. Bildung spielt eine bedeutende Rolle: die vorgeschlagene Landesuniversität und die Beteiligung von Gelehrten an der Regierung unterstreichen dies.
Auch die soziale Frage bewegt Michael Gaismair: Der Zehent wird erstmals zweckgebunden für die Armenfürsorge verwendet, die Klöster werden in Spitäler und Altenheime umfunktioniert; eine staatliche Sozialhilfe, Gewinnbegrenzungen und ein Grundeinkommen für alle Arbeitenden, ein staatliches Gesundheitssystem mit freien Arzneimitteln und eine Grundversorgung mit Nahrung und Kleidern sind vorgesehen. Gezielte Umweltmaßnahmen und eine Stärkung der regionalen landwirtschaftlichen Produktion mit Obst, wertvollem Getreide und Gewürzen werden forciert und eine wirtschaftliche Autarkie angestrebt.
Gaismairs Verfassungsentwurf mutet phasenweise auch nach fast 500 Jahren durchaus aktuell an. Gaismairs und Kelsens methodische Ansätze zeigen allerdings deutliche Unterschiede: Gaismair füllt inhaltlich seine Verfassung mit allgemeingültigen rechtsethischen Grundsätzen. Zentraler Punkt sind die Grund- und Freiheitsrechte. Soziale Anliegen werden engagiert artikuliert; sozialpolitische Fragen sind zeitlich um einige Jahrhunderte vorverlegt, besser: wurden später wieder ausgeblendet und vom (späteren) Kaiser Ferdinand I. nach der gezielten Ermordung Gaismairs in die Versenkung verabschiedet. Zum Glück überdauerte ein Exemplar von Gaismairs Verfassungsentwurf (konfisziert) in einer Klosterbibliothek.
Hans Kelsen hingegen konzentrierte sich auf die formalrechtlichen Prinzipien, während die materiellrechtlichen Grundrechtsfragen nicht eingearbeitet wurden. Diese stammen aus dem Grundrechtskatalog der österreichischen Verfassung von 1867.
Besonders die Schaffung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit zur Rechtskontrolle des Bundes und der Länder ist Kelsen zu danken. Österreich kann auf die weltweit wohl älteste Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofes verweisen, der auch für andere Staaten zum Vorbild wurde. Neben der Gesetzeskontrolle ist er auch für die Verordnungsprüfung und die Überprüfung von Wahlen zuständig. In allen genannten Fällen lassen die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes in den vergangenen Jahren durch inhaltliche Brisanz aufhorchen. Der Verfassungsgerichtshof garantiert jedenfalls eine einheitliche Rechtsanwendung und verdeutlicht als letzte Instanz den „ Stufenbau der Rechtsordnung“(Adolf Merkl) in seiner praktischen Umsetzung.
Die beiden Juristen Gaismair – mit seinen frühzeitigen, prägenden verfassungsrechtlichen Inhalten – und Hans Kelsen als der „Jurist des 20. Jahrhunderts“(Horst Dreier) sind jeweils Leuchttürme der österreichischen Verfassungsgeschichte, auch wenn sie inhaltlich unterschiedliche Signale setzen. Persönlich weisen Gaismair und Kelsen allerdings etliche Parallelen auf.
Gaismair und Kelsen fühlen sich ausdrücklich – das beweisen auch ihre Lebensläufe – als Verteidiger der geistigen Freiheit; beide zeigen dabei gewisse staatssozialistische Tendenzen. Beide „Verfassungsgeber“fielen bei den damals Mächtigen in Ungnade, mussten schließlich ihr Heimatland verlassen und wählten das Exil bis zu ihrem Lebensende: Gaismair floh nach Venetien und entkam den gedungenen Häschern des Kaisers nicht, die ihn 1532 brutal ermordeten. Hans Kelsen verließ 1930 Österreich und wanderte als Universitätslehrer über Deutschland, die Schweiz und die Tschechoslowakei in die USA aus, wo er 1973 hochbetagt starb.
In der Verfassungsgeschichte Österreichs werden Gaismair und Kelsen letztlich den ihnen gebührenden Platz einnehmen. Die von Bundespräsident Van der Bellen, Tiroler wie Gaismair, gerühmte Schönheit unserer Bundesverfassung gilt es zum 100Jahr-Jubiläum gebührend zu feiern. Doch dabei sollten wir bei aller Eleganz nicht auf die Relevanz – historisch und aktuell – unserer Verfassung vergessen.
Erwin Schranz, Jahrgang 1950, Dr. jur., Richter, mehr als zwei Jahrzehnte Abgeordneter der ÖVP im Burgenländischen Landtag, zuletzt Zweiter Landtagspräsident.