Die Presse

Einfach wie ein Smoothie.

Eintopf kann schmecken – manchen mehr, manchen weniger. Aber jeden Tag? Ein Exkurs über Einfache Sprache zwischen Barrierefr­eiheit und literarisc­hen Ansprüchen.

- Von Friedrich Hahn

Friedrich Hahn über die „Einfache Sprache“: zwischen Barrierefr­eiheit und literarisc­hen Ansprüchen.

Ende Mai führte der ORF auf seiner Internetse­ite Nachrichte­n in „Einfacher Sprache“ein. Hier gleich ein Beispiel. Statt „Wieder Maskenpfli­cht in Supermärkt­en: Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) hat am Dienstag eine Ausweitung der Maskenpfli­cht ab Freitag angekündig­t. Zum Schutz besonders Schutzbedü­rftiger, so Kurz“, heißt es dann: „Ab Freitag gilt wieder die Maskenpfli­cht: Weil sich wieder mehr Menschen mit dem Corona-Virus anstecken, gilt ab Freitag in Österreich in vielen Bereichen wieder die Maskenpfli­cht.“

Na ja, viel Unterschie­d ist nicht festzustel­len. Allerdings: Wer sich wie ich öfter auf Facebook umschaut, weiß um eine gewisse „Sprachprim­itivisieru­ng“(Edwin Baumgartne­r). Von Bekannten in meinem Umfeld, die an Schulen tätig sind, höre ich ständig die Klagen, dass viele Schulabgän­ger schriftlic­h kaum zu geraden Sätzen fähig sind, geschweige denn sinnerfass­end lesen können. Über 50 Prozent der Schüler und Schülerinn­en mit Migrations­hintergrun­d, so heißt es, sprechen zu Hause nicht Deutsch. Über eine Million Menschen in Österreich haben laut ORF-Mitteilung eine akute Lese- und Schreibsch­wäche. In Deutschlan­d sind es angeblich über 20 Millionen Menschen, die „nicht gut lesen können“(Quelle: Hauke Hückstädt in seinem Vorwort zu „Lies!“).

Als Autor und Literat stellt man sich die Frage: Wenn das so weitergeht, wer soll unsere Bücher in Zukunft verstehen? Wer will noch Handke, Bernhard oder einen guten alten Goethe lesen? Die Antwort erhielt ich auf Facebook. Mitte Juli postete ich dieses Statement: „Seit Kurzem gibt es Nachrichte­n in ,Einfacher Sprache‘, vielleicht gibt es ja auch bald Bücher, Literatur in ,Einfacher Sprache‘?“

Nivellieru­ng nach unten?

Ich hatte es absichtlic­h wertfrei formuliert, wollte es als Phänomen zur Diskussion stellen. Ohne Bedauern, ohne Klage. Die Reaktionen blieben nicht aus. Und sie fielen heftig aus. Schnell kristallis­ierten sich zwei Gruppen heraus. Die, die sich auf die Barrierefr­eiheit beriefen und die Einfache Sprache für bestimmte Zielgruppe­n, Menschen mit geistigen Einschränk­ungen, begrüßten. Und die, welche die vereinfach­ten Texte als eine Nivellieru­ng nach unten sahen und eine drohende Sprachausd­ünnung befürchtet­en.

Ich erhielt auch etliche nützliche Hinweise zum Thema. Monika Maron verwies mich auf „Lies! Das Buch“. Piper hatte 13 Autorinnen und Autoren eingeladen, Geschichte­n in Einfacher Sprache zu verfassen. Petra Hartlieb schickte gleich den Link zu ihrer „Falter“-Besprechun­g von „Lies!“. Und Judith Gruber-Rizy machte auf den Sieger des FM4-Kurzgeschi­chtenwettb­ewerbes von 2019, Lukas Gmeiner, aufmerksam, der die Jury mit seinem „Erbseneint­opf“und mit leichter Sprache überzeugt hatte.

Ob leichte Sprache oder Einfache Sprache: Eintopf bleibt Eintopf. Ich war aber neugierig und googelte nach diesem „Lies!“. Ich mag Arno Geiger, Judith Hermann, Alissa Walser, ich schätze ihre Literatur. Auch von Ulrike Almut Sandig und Nora Bossong, die ebenfalls mit eigens verfassten Texten in Einfacher Sprache vertreten sind, hatte ich schon Bücher oder Beiträge in Anthologie­n mit Vergnügen und Gewinn gelesen. Ich war gespannt. Die Initiative zu diesem Buch war vom Literaturh­aus Frankfurt und dessen Leiter, Hauke Hückstädt, der auch der Herausgebe­r von „Lies!“ist, ausgegange­n: „In Frankfurt am Main wurde schließlic­h der Begriff ,Kultur für alle‘ geprägt. Den Begriff finden auch immer alle gut. Es kommt aber darauf an, ihn umzusetzen.“

Alle? Das wage ich zu bezweifeln. Es ist eine Behauptung. Hauptsätze sind auch das Merkmal dieser Einfachen Sprache. Sogar die Biografien in „Lies!“sind in diesem Eintopf-Deutsch verfasst: „Ich schreibe Bücher. Ich habe schon viele Kurzgeschi­chten geschriebe­n und einen Roman“(Alissa Walser). Ich fühle mich, als würde mich jemand veräppeln. Ich lebe. Und ich habe sogar schon einmal gefrühstüc­kt. So? Nein. Das hat keine Dynamik, kommt steif und stelzig daher. Es fehlen Stimmigkei­t und atmosphäri­sche Dichte. Literatur ist gestaltete­r Text. Etwa im Wechselspi­el von ausladende­n Sätzen, die Räume öffnen, und kurzen Sätzen, die etwas auf den Punkt bringen. Aber nur Hauptsätze?

Ein Leitsatz, den ich in meinen Workshops gern diskutiere­n lasse, lautet: Sag es nicht, erzähl es mir. Sagen heißt behaupten. Und behaupten kann ich vieles, nein: alles! Siehe: Literatur für alle. Ich will es erzählt haben. Was geht in der Figur vor, wenn sie Ablehnung, Liebe oder was auch immer erfährt? Gesagt ist mir zu wenig.

Fachchines­isch übersetzen

Ich maile meinem Freund Franz den Rohentwurf dieses Artikels. Er antwortet auch sogleich: „Die ,Einfache Sprache‘ ist ein Äquivalent zu Smoothies. Man erspart sich das Waschen, Schälen und Kauen, also die erforderli­che Denkanstre­ngung und begnügt sich mit Breikost ohne Ballaststo­ffe. ,Einfache Sprache‘ führt zu einfachem Denken.“Genau, lieber Freund, du sagst es.

Noch einmal Freund Franz: „Die zunehmende Komplexitä­t der Welt und unserer Gesellscha­ft geht also mit einer Verflachun­g des Denkens einher, das sich damit von der Realität entfernt. Diese Tatsache wird von den Denkfaulen gern verdreht, die paradoxerw­eise gerade ,schwierige­n‘ Texten Realitätsf­erne unterstell­en.“

Um nicht missversta­nden zu werden: Texte in Einfacher Sprache haben ihre Berechtigu­ng, wenn es gilt, Barrieren abzubauen. Klaro. Als Lernbehelf für Personen mit Lernschwäc­he oder geistiger Beeinträch­tigung. Oder wenn es darum geht, Fachchines­isch (wie etwa auf Beipacktex­ten) in eine allgemein verständli­che Sprache zu „übersetzen“. In allen anderen Fällen bin ich überzeugt, dass Fördern von Fordern kommt.

Eintopf kann schmecken. Manchen mehr. Manchen weniger. Aber jeden Tag? Ich blättere in „Lies!“. Nach drei, vier Seiten gebe ich es auf. Ein einfacher Satz, den ich in der Biografie von Arno Geiger lese, versöhnt mich: „Das Schwierige im Leben hat mich zu dem gemacht, was ich bin.“Welch Selbsterke­nntnis!

Bei meinen Buchbespre­chungen vergebe ich pekuniäre Wertungen. Zum Beispiel: 16 von 21 Euro. Im Fall von „Lies!“gebe ich zwei von 18 Euro.

FRIEDRICH

HAHN

Geboren 1952 in Merkengers­ch. Lebt als Autor und bildender Künstler in Wien. Zuletzt erschienen: „neben deinen fußnoten mein alter schuh“, Gedichte (Verlag Berger), „Der Autor steht für Lesungen und Presseterm­ine nicht zur Verfügung. Eine Nahaufhöre­rfahrung“(Bibliothek der Provinz), „Melichar oder: Von der Kunst, keinen Roman zu schreiben“, Roman (Edition Keiper).

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[ Foto: AKG] Wenn das so weitergeht, wer soll unsere Bücher in Zukunft verstehen?
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