„Sehr literarisch, leider!“
Nur noch Klappentext und Coffee to go? Das Aufmerksamkeitsfenster für neue Bücher entspricht oft gerade noch der Haltbarkeit eines Liters Milch. Und doch gibt es sie, die widerborstigen Geister, die für die Literatur brennen.
Nur noch Klappentext und Coffee to go? Es gibt sie trotzdem noch, die widerborstigen Geister, die für die Literatur brennen. Von Marlen Schachinger.
Das Museum Hamburger Bahnhof liegt mitten in Berlin, was nur denjenigen verwirrt, dem die Stadt unvertraut klingt. Als ein Fragment Berliner Geschichte thront die historische Ankunftshalle unweit des heutigen Hauptbahnhofs. So dünkt es einen durchaus stimmig, nennt sich eine Präsentation darin „Zeit für Fragmente“. Diese zeigt unter anderem „Das Ende des 20. Jahrhunderts“, eine Arbeit von Joseph Beuys, die aus 21 Basaltstelen besteht, welche einem kreuz und quer den Weg verblocken, derweilen sie auf Transportpaletten ihrer Zukunft harren: was bleibend unsere Gegenwart stört. Ob ihrer Verlorenheit im Raum wecken sie das verbotene Verlangen, sie zu berühren – wenigstens mit Worten; denn Fragmente, zitiere ich die Brüder Schlegel in Gedanken, regen an. Ihre verweisende Struktur bewirkt ihre Fortsetzung. Das literarische Fragment öffnet die Pforte zu einer Weite, ermöglicht eine Begegnung in angrenzenden Denkräumen, die sonst eher voneinander getrennt betreten werden: Philosophie, Kunst, Gesellschaft, Natur . . . Nur so kann Literatur lebendig und gesellig bleiben, nur so gelingt es ihr, das Leben und die Gesellschaft poetisch werden zu lassen – schrieben die Brüder Schlegel einst; schreibe ich heute. Damit sich die Kunst, „mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art“gesättigt und durch „die Schwingungen des Humors“beseelt (Athenäum Fragment 116), mitten in der Gesellschaft niederlasse. Kein Elfenbeinturm, sondern Fortsetzung im Dialog; „sympholisieren“nannten die Frühromantiker dies. „Wie schön ist eine blaue Blume in einem Feld von Weizenhalmen“, zitiere ich in Gedanken die Verleger Christian Ruzicska und Joachim von Zepelin, mit denen ich am Vortag im Rahmen meiner Recherchen, ausgehend von einem persönlichen Lebensfragment, sprach: Quo vadis, Kunst, wenn „eben doch sehr literarisch“oder „tatsächlich Literatur“als Urteil meiner Arbeitsprobe mit „leider“ergänzt wird, und Agenturen wie Publikumsverlage daher lieber zögern oder ablehnen? – Der Blick zu den Kolleginnen und Kollegen bestätigt: Wer derzeit in keinem lebendigen Verlag Hausautor, Hausautorin ist, hat es schwerer denn je. „Man könnte“, sagte Ruzicska, „fast boshaft sagen: Dieser auf Erfolg ausgerichtete Markt produziert seine Nischen selbst!“
Darin Verlage und Buchhandlungen, die sich auf die in Zahlen kleinere, doch konstante Gruppe widerborstiger Geister spezialisieren, denen „tatsächlich Literatur“nach wie vor ein Positivum bedeutet. Offenbar ist es ein Charakteristikum der Nische, dass ein Name zum nächsten führt, von Verlagen zu Buchläden zu Veranstaltungsorten. So zog der Verlag Duotincta die Alte Büdnerei Kühlungsborn nach sich, ein Posting der Buchhandlung Slawski brachte den Secession Verlag ins Spiel, und deren Schwärmen von Buchhändlerinnen und Buchhändlern, die dafür brennen, was sie tun, evoziert in meiner Erinnerung das Wiener Literaturbuffet Lhotzky, dessen Eigentümer am allerliebsten über eines spricht: weshalb dieses Buch ausgezeichnet sei, unbedingt lesenswert, außerdem beziehe es sich auf jenes – schon stapeln sich die Titel. Er kennt kein verknapptes Aufmerksamkeitsfenster, das in anderen Buchhandlungen gerade noch der Haltbarkeit eines Liters Milch entspricht. Diese Zeitenge findet Mona Müry besonders bedenklich. Es genüge keineswegs, Bücher in Buchläden aufzulegen, ihr Cover zu kennen und zwei, drei Sätze einer Rezension wiedergeben zu können. Unmöglich, dass so irgendjemand von der Sprache eines Werkes berührt werde: „Die Buchhändler, die lesen und die begeistert sind, verkaufen zehn oder zwanzig Mal so viel. Wenn die Bücher nur da liegen, dann werden sie halt
MARLEN
SCHACHINGER
Geboren 1970 in Braunau. Dr. phil. Lebt als Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Niederösterreich und Wien. Dozentin an der Universität Wien für Vergleichende Literaturwissenschaften. Ihr Dokumentarfilm „Arbeit statt Almosen“hat am 11. Oktober im Programmkino Wels Premiere, die von ihr herausgegebene Anthologie „Fragmente – Die Zeit danach“erscheint Anfang Oktober bei Promedia.
wieder zurückgeschickt: Da kriegen die Bücher ja nie eine Persönlichkeit für die Buchhändler.“
Alexander Wewerka, Eigentümer des Alexander Verlags meinte, der verstärkte Fokus auf die kommerzielle Nutzung von Literatur sei kaum eine Novität, vielmehr glaube er, dass diese Haltung wiederkehre, heute befänden wir uns in der Endphase des Kommerzwahns. Natürlich seien diejenigen, die davon profitieren, bestrebt, diesen Irrsinn solange wie möglich am Leben zu halten. Der habe in logischer Folge jedoch gleichfalls die Gegenbewegung initiiert: Kleine Buchläden, „mit ein, zwei Leuten. Für mehr reicht es nicht. Aber mehr muss es auch nicht sein. Auf vier Etagen? Das ist doch totaler Quatsch!“Kunst, so stimme er mir zu, könne durchaus eine Gegenstimme zum gegenwärtigen Wahnsinn sein, selbst wenn sie derzeit noch eher dünn klinge, sei er überzeugt, dass sie wieder erstarken werde. „Ein guter Künstler legt den Finger auf wunde Punkte, spürt dem nach, was nicht funktioniert“, so Alexander Wewerka. – Und eine gute Künstlerin? Erst recht.
Die Nische kennt ihre Konsequenzen; was Jürgen Volk vom Verlag Duotincta zur Schädlichkeit von Monokulturen brachte – ein Umdenken tue not, um der Vielfalt ein Weiterleben zu gewähren; es sei eine Entscheidung, die man treffe. Auch Ruzicska und Zepelin nennen es so: Wer im großen umkämpften Markt mitspielen wolle, habe bewusst Titel aufgrund „vermeintlicher Marktgewohnheiten und Tendenzen“zu wählen, die eventuell als Bestseller funktionieren könnten, hat dafür eine Maschinerie zu ölen, die mindestens vier jener Verdachtswerke im Spiel um More-of-thesame! positionieren kann; und dann jeden Monat 50 Münder zu stopfen. Statt krampfhafter Suche nach More-of-the-same ließe sich doch der Fokus auf die Sehnsucht nach dem Noch-Ungesagten, auf das Fehlende legen und einen neuen Diskurs intendieren. Mona Müry nennt dies „das Prinzip Hoffnung“: „Es ist die Sehnsucht nach einem Wort, das mich aufhorchen lässt, das mich fragt, mich trifft, ein Wort, das länger hält. Und vor allem ein Wort, ein Text, mit dem und zwischen dem das Nicht-Sagbare eine Heimat hat, einen Raum hat: Dass das Wort, der Text auf ein Mehr verweist, auf ein anderes, auf das, was nicht mehr mit Worten ausgedrückt werden kann, aber es braucht die Worte dazu, um diesen Raum zu öffnen.“
Secession sowie Duotincta haben sich bewusst dafür entschieden, den Ökonomiezwang zu meiden. Wer in einem begrenzten Orangenhain wie die Fruchtfliege mit seiner Gier alles verschlinge, sodass final keine Schale für die Eiablage bleibe, fresse sich das eigene Grab, sagte Ruzicska von Secession. Im jungen Verlag Duotincta entschied man sich, wie die meisten der sogenannten freiberuflichen Literatinnen und Literaten, für die Mischkalkulation aus freien Lektoratsaufträgen und Brotjobs: Um tagtäglich (auch) tun zu können, was wir lieben, sind wir fast zu allem bereit; kein Grund zu jammern. Nicht einmal, wenn die Notwendigkeit der Existenzsicherung uns an unsere Grenzen bringt. Die nötige Maschinerie klein halten, damit deren Kosten nicht das Sein auslöschen. Dann, und nur dann, sei es möglich, keine Massenware zu schreiben oder solche verlegen zu müssen; sondern was in eigenen Augen gut sei.
Diese Vision bereichert der Literatinnen und Literaten Weg hindurch – wie Beuys dominante Basaltstelen rund um mich: das mahnende „Ende des 20. Jahrhunderts“, gesäumt von leeren Nischen – standen einst Säulenheilige dort oder Allegorien? Ich sollte mich auf meine Notizen konzentrieren, schließlich währt die Aufgabe nicht ewig, die ich dieser Schreibatelier-Gruppe stellte: „Betrachte das Kunstwerk, nimm wahr: Gehe in Resonanz. Sobald sich in dir verdichtet, was es anregt, finde in Sprachbildern das Echo.“
Die Aufgabe der „ästhetischen Bildung“nannte Jürgen Volk von Duotincta es: „Wir glauben an die ästhetische Bildung eines Menschen und seines Geistes, und an die heilige Notwendigkeit der Leseförderung für alle.“Amen. „Es ist nicht dasselbe, ob wir im Netz lesend ideologische Grabenkämpfe konsumieren oder ob wir einen Roman lesen. Der Roman ist für mich das Heilmittel (vielleicht nur das Gegengift), um gegen Entwicklungen wie Fundamentalismus und Gleichgültigkeit zu punkten“, sagte Volk – und was einen auf den ersten Blick das Statement eines liebenswerten Idealisten zu sein dünkt, entpuppt sich als fundierte Reflexion, betrachtet man es genauer; oder vielmehr die kognitiven Abläufe während des Lesens von Belletristik. Wie kein anderes Medium bildet sie Fantasie und Empathie, fördert die eigene Bildwelt: „Wir werden ständig mit den Bildern anderer bombardiert. Wenn ich lese, entstehen jedoch meine eigenen Bilder, die in einem zweiten Leser nie gleich sind“, formulierte Mona Müry die Faszination der Lektüre auf sie. „Das ist ein innerer Reichtum. Die Bilder eines Films sind immer die Bilder anderer.“
Manchmal, so Jürgen Volk, träume er davon, dass „künftig nach der Wandlung dieser Blauen Blume zur Mathilde in den Mittagspausen nicht mehr über Netflix-Serien, sondern über Bücher diskutiert wird. Weil sie lebensnotwendig sind.“
Heinrich von Berenberg, Verlagsleiter des gleichnamigen Verlages, ist da nüchterner: „Es entwickelt sich alles im Moment mit einer Geschwindigkeit, von der nicht abzusehen ist, was sie alles begräbt und an Neuem hervorbringt. Die Art von Büchern, wie wir sie machen, wird es noch eine Weile geben. Aber die Leser werden älter. Junge Leser lesen auch, aber sie lesen ganz anders, und wir als ein Verlag von qualitativ wie ausstattungsmäßig anspruchsvollen Büchern müssen uns schon überlegen, ob die Leser der Zukunft fadengeheftete Hardcovers kaufen und lesen wollen.“
Wie stand es im Roman „Die Jagd nach dem Blau“des Franzosen Romain Gary: „Es gibt den alten Spruch, dass der Mensch von Hoffnung lebt, aber ich fange an zu glauben, dass eher die Hoffnung von uns lebt.“Um sie nicht sterben zu lassen, sei auch jene genährt, die an Fadenheftung, Leineneinband, farblich abgestimmtes Vorsatzblatt und Lesebändchen glaubt.
Wiederholt sagt der Vertretermund, es seien die Buchhändlerinnen und Buchhändler, die weniger Mut hätten – aber selbst dafür gibt es Gegenbeispiele! Die Buchhandlung Slawski etwa, so Ruzicska, in Buchholz in der Nordheide, die dem Credo folge – und ich unterdrückte mein Auflachen, weil ich Monika Külper, eine der Buchhändlerinnen ebenda, vor mir sah, zierlich und quirlig: „Wir müssen lesen! Sonst können wir nicht verkaufen!“
Bei „wirklicher Literatur“genügt es eben nicht, den Klappentext zu kennen. Sie besteht aus mehr als „Sommerkuss in Saint Tropez mit frühlingshaften Folgen“, definiert sich, abgesehen vom Inhalt, über die Modi des Erzählens wie Klangfarbe, Sprache, gewählte Struktur. Dafür braucht solch eine Literatur und so ein Buchladen „keinen Coffee to go im Zusatzangebot, serviert mit Hipster-Blick“, ätzte Ruzicska, sondern im Dialog erlesene Empfehlungen, um „Seelen im Gleichklang“anzuziehen. Und sie kommen; selbst an einen derart entlegenen Ort wie Buchholz in der Nordheide . . . Der seine Spuren bis nach Berlin zieht; denn die Literaturliebhaberin, die wenige Meter neben mir auf dem Klapphocker im Hamburger Bahnhof sitzt, ist der lebendige Beweis für die These, dass Literaturaffine ob ihres Nischenlebens eine Treue kennen, die mich immer noch frappiert: Wer einmal seines Geistes Heimat gefunden hat, verlässt sie nicht so schnell, sondern folgt ihr, steckt mit eigener Begeisterung vier weitere an, damit sie sich in meinem Schreibatelier der Kunstvermittlung Hamburger Bahnhof in Fragmente und ihre Narration vertiefen.
Gerade jetzt, so der Verlag Secession, werde vielerorts in der Gesellschaft ein Umdenken sichtbar, das Wissen, so könne es auf keinen Fall weitergehen, verändert: „Man hat Lust auf Ernsthaftigkeit!“Deshalb auch ihre Wahrnehmung, die „Handliche Bibliothek der Romantik“tue not: „Unsere Umbruchszeit spiegelt sich in den Texten der Romantiker, in ihren Diskussionspunkten.“Themen wie Kommunikationsstruktur, Gerüchte, Fake News, Unübersichtlichkeit klingen an und zeigen uns Perspektiven auf die Probleme der Gegenwart, denn es sei die Herausforderung der Romantiker und Romantikerinnen gewesen, durch eine endende Zeit in eine neue aufzubrechen. Wie in unserer Gegenwart, so warf auch damals die Veränderung der Welt Fragen des Seins auf: „Wie lebe ich? Warum lebe ich? Wie bin ich traurig, wie bin ich glücklich . . .?“„Und wovor habe ich Angst“, fügte Zepelin ein: „Ich glaube, wir leben in einer ziemlich ähnlichen Phase . . . – und wenn wir ehrlich sind: Wir wissen nicht, wo es hingeht!“
Ich linse zu meiner Literaturliebhaberin hinüber; die Wahrnehmung des „Endes“bringt sie in Wortfluss und mir die Erkenntnis, dass gerade jetzt die Blaue Blume blüht: Sie birgt nicht nur die Sehnsucht nach einem Leben fern der Ausbeutung der Natur, fern einer Wirtschaft, die ewiges Wachstum will, sondern sie sucht vor allem einen Ausblick in eine Zukunft, die menschenwürdiges Sein ermöglicht. Unter anderem im Spiegel der Literatur, um sich danach in ein bewusstes Gestalten der Welt zu begeben.
Wie meine Teilnehmer im Schreibatelier, die sich einlassen, findet „tatsächlich Literatur“nach wie vor interessierte Geister. Woher sonst käme die Literaturaffine, die sich der Rettung ihrer lokalen Bibliothek in Malchin verschrieb, weil sie jenen Freiraum an ihrem Wohnort nicht missen will? – Noch fünf Minuten Schreibzeit, ich verlasse die Basaltstelen, durchquere die Spätromantik im Empfangsgebäude, um in der Gegenwart anzukommen: „Das bloß harrende Hoffen ist nur das Hoffen der Toren. Man muss kämpfen, um zu hoffen, wie man hoffen muss, um zu ertragen“(Friedrich Schleiermacher).
„Ein guter Künstler legt den Finger auf wunde Punkte, spürt dem nach, was nicht funktioniert.“Und eine gute Künstlerin? „Erst recht.“