Fillafer: Kelsen, biografiert.
Intensiv: Szczepan Twardochs eindringlicher Roman über eine jüdische Familie in Warschau.
Ein großer Wurf: Thomas Olechowskis Werk über Hans Kelsen verbindet elegant dessen Lebenslauf mit seiner Denkbiografie. Gelesen von Franz Leander Fillafer.
Es geht um die Jahre knapp vor und während des Zweiten Weltkriegs, und das heißt zunächst, es geht um die Nazis (zu denen die Österreicher ja unbedingt dazugehören wollten). Da der Roman in dieser Zeit in Warschau spielt (wobei von Spielen nicht im Geringsten die Rede sein kann, auch wenn viel von Kindern erzählt wird), sind wir Leser in einer der in jenen Jahren am schlimmsten betroffenen Städte Europas.
Szczepan Twardoch, ein Pole Jahrgang 1979, hat sich über das Geschehen in dieser Zeit in Warschau gründlich informiert – zahllose Straßen, Plätze und Personen werden mit Namen genannt und realisiert, sodass man sich als Leser ständig und stolpernd mitten in den Ereignissen findet und sich dem nicht entziehen kann. Und bald auch nicht will, aber richtig erfreulich scheint einem die Lektüre erst nach der letzten Seite, wenn man auf das große erzählerische Geschick des Autors zurückblickt, mit dem er einem die deprimierenden Fakten zugemutet hat. Zudem rücken einem die Figuren, die man immer individueller kennenlernt, zunehmend ins Gemüt.
Erzählt wird von einer jüdischen Familie in Warschau: Der Mann und Vater, Jakub Shapiro, ist ein gewaltiger Boxer, der sich freilich nicht viel zutraut und sich eine Zeit lang, nachdem er seine Familie verlassen hat, in eine Art psychische Abwesenheit verzieht. Währenddem behütet ihn Rifka, eine sehr wache, ihn liebende Frau, die sich das nötige Geld für beide als Prostituierte verdient. Sie nimmt den erlahmten Geliebten an ihre Seite und so aus der drohenden Gefahr der Deutschen und der ebenso judenfeindlichen Polen, sie kümmert sich um den kümmerlich gewordenen, ehemals gewaltigen und gewaltfreudigen Mann, der sie nach langer Zeit der Schwäche endlich wieder – und das ist das im Roman verwendete Wort – fickt. Den Weg ins Weite gesprungen
Sie ist im kapitelhaften Wechsel die eine Erzählerin des Geschehens; der andere ist David, einer der beiden Söhne Jakubs, der gegen Ende des Romans und der deutschen Besatzung mit Mutter und seinem dreizehnjährigem Bruder in einen Zug Richtung KZ gequetscht ist, und dem es dennoch gelingt – nicht zuletzt zur Freude und zum Aufatmen der Leserin und des Lesers –, aus einem der brüchigen Fenster des vollgestopften Waggons ins irgendwie Weite zu springen. Dass ihm diese Art Flucht überhaupt gelingt, drängt an die Grenzen der möglichen Realität und betont dadurch umso mehr die ebenso dramatische wie entsetzliche Realität im Polen jener Jahre. Mutter und Bruder müssen bleiben, er schafft es am Ende bis nach Israel.
Erleichtert nimmt man wahr, dass Szczepan Twardoch nicht auch noch versucht, die politischen Hintergründe neuerlich zu diskutieren. Er geht mit Rücksicht auf seine Erzählung davon aus, dass die Leser wissen, was damals politisch und militärisch geschah. Sein Interesse gilt dem Umgang der unterschiedlichsten betroffenen Großstädter mit der damaligen Situation. Damit wird auch diese historische Erzählung (wie alle gelungene Literatur) ein Kommentar gegenwärtigen Verhaltens.
Von den zahlreichen Büchern Twardochs sind schon vier ins Deutsche übertragen (sicher keine einfache Arbeit, aber durch Olaf Kühl sehr gelungen). Dieser unbedingt zu empfehlende, sehr konkrete Roman liest sich wie eine Pflichtlektüre für Deutsche und Österreicher und garantiert intensive Lesestunden.
Szczepan Twardoch
Das schwarze Königreich Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. 416 S., geb., € 24,70 (Rowohlt Berlin Verlag, Berlin)