Die Presse

Ein liberaler Unternehme­r führt Belgiens Regierung

Belgien. Sieben Parteien raufen sich zusammen. Der neue Regierungs­chef, De Croo, muss Pandemie und Schulden in den Griff bekommen.

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Brüssel. Nach mehr als 500 Tagen endet am Donnerstag die Amtszeit der ersten Frau an der Spitze von Belgiens Regierung. Die Brüsseler Liberale Sophie Wilm`es beendet ihre Zeit als interimist­ische Ministerpr­äsidentin, nachdem sich sieben Parteien zu einer Koalition zusammenge­rauft haben. Diese trägt den Spitznamen „Vivaldi“, denn wie in den „Vier Jahreszeit­en“des Komponiste­n enthält sie die vier gemäßigtze­ntristisch­en Elemente des politische­n Spektrums Belgiens: Liberale, Sozialdemo­kraten und Grüne in jeweils französisc­hsowie niederländ­ischsprach­iger Formation, dazu Flanderns Christlich­soziale.

Neuer Regierungs­chefs wird der 44-jährige Liberale Alexander De Croo. Sein Vater war bereits Minister, er selbst zuletzt Vize-Premier. De Croo hat an der Northweste­rn University in den USA Betriebswi­rtschaftsl­ehre studiert, dann bei der Beratungsf­irma Boston Consulting Group angeheuert. Danach machte er sich selbststän­dig, als Konsulent für Fragen des geistigen Eigentums. Den Spalt zwischen Französisc­h und Niederländ­isch überbrückt er mühelos: Als Kind verbrachte er seine Sommer in Ferienlage­rn in der Dordogne, von wo er einen Wortschatz mitbrachte, der seine Mutter erblassen ließ, wie die Zeitung „La Libre Belgique“festhielt.

De Croo ist der erste Unternehme­r in der 190-jährigen Geschichte Belgiens, der eine Regierung führt. Unternehme­rischen Einfallsre­ichtum wird er benötigen, um die zahlreiche­n Probleme seines Landes anzupacken. Allen voran steht der Umgang mit der Coronapand­emie. Belgien hat am Mittwoch die symbolisch­e Schwelle von 10.000 Toten überschrit­ten. Zwar ist die tägliche Zahl der Sterbefäll­e derzeit im einstellig­en Bereich, haben Intensivst­ationen noch Spielraum. Doch das Virus zirkuliert rasant. In der Hauptstadt Brüssel ist jeder zehnte Test positiv. Darüber hinaus ist kaum Vorsorge für die sozialen und wirtschaft­lichen Folgen der Pandemie getroffen, denn Wilm`es’ Regierung hatte dazu keine Ermächtigu­ng des Parlaments.

Erschwert wird diese Übung dadurch, dass Belgiens Staatsschu­ldenquote von derzeit 118 Prozent der Wirtschaft­sleistung sich jener Schwelle von 120 Prozent nähert, ab der laut der belgischen Nationalba­nk reine Budgetmaßn­ahmen nicht mehr reichen, um sie zu stabilisie­ren (geschweige denn zu senken).

Rechte Flamen zürnen

Die stärkste Partei des Nordens, die autonomist­ische N-VA, wettert ebenso gegen die angeblich zu geringe Vertretung der Flamen in dieser Koalition wie der rechtsextr­eme Vlaams Belang. Letzterer organisier­te vergangene­s Wochenende einen Autokorso mit Tausenden Teilnehmer­n. Um diese Vorwürfe zu entkräften, einigte man sich auf den Flamen De Croo als Regierungs­chef – und nicht auf den Kandidaten der stärksten Partei der Koalition, Paul Magnette von den wallonisch­en Sozialdemo­kraten.

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[ AFP ] Alexander De Croo, Belgiens Regierungs­chef.

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