Dem Libanon droht eine „Fahrt zur Hölle“
Analyse. Zwei Monate nach Explosion in Beirut verschlimmert sich das Chaos.
Tunis/Beirut. Emmanuel Macron bemühte sich erst gar nicht, seine Empörung diplomatisch zu zügeln. Er schäme sich für die politischen Führer des Libanon, polterte Frankreichs Präsident im fernen E´lyse´e-Palast und geißelte das Verhalten der Politkaste als „kollektiven Verrat am Volk“. Ein paar Dutzend Menschen seien heute dabei, den Libanon zu Fall zu bringen, weil sie „ihre parteiischen und individuellen Interessen über das allgemeine Interesse des Landes“stellten. Macron, Staatschef der ehemaligen nahöstlichen Mandatsmacht Frankreich, agiert auf dem internationalen Parkett derzeit als Schutzpatron und Zuchtmeister des Zedernstaates in Personalunion.
Ende Oktober will er zusammen mit den Vereinten Nationen eine globale Geberkonferenz organisieren, um Milliardenhilfen einzuwerben. Gleichzeitig liest er dem Beiruter Establishment nun schon zum dritten Mal öffentlich die Leviten, was vor allem bei der Schiiten-Miliz Hisbollah nicht gut ankommt. Er verbitte sich diesen „herablassenden Ton“, antwortete deren Chef Hassan Nasrallah.
Das Ende der guten Vorsätze
Doch rund zwei Monate nach der verheerenden Mega-Explosion im Hafen scheinen in Beiruts Machtzirkeln alle guten Vorsätze verflogen. Statt die dringenden Reformen anzupacken, widmen sich die Parteioligarchen wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem endlosen Geschacher um Posten und Pfründe. Libanons christlicher Präsident Michel Aoun bemühte zuletzt sogar biblische Metaphern, um die Gefahren für sein Land zu beschwören. Man werde in der Hölle enden, wenn nicht noch ein Wunder geschehe, erklärte er im Blick auf das Gezerre bei der Regierungsbildung.
Der designierte Premierminister Mustapha Adib, vor seiner Nominierung Botschafter in Deutschland, gab vergangenen Samstag auf. Vier Wochen lang hatte er vergeblich versucht, ein parteiübergreifendes Reformkabinett auf die Beine zu stellen und damit den Staatszerfall zu stoppen.
Im Netz macht sich unter dem Hashtag „Wir fahren zur Hölle“Zynismus breit, zumal auch bei der Untersuchung der Explosionsursache nichts vorangeht. Internationale Ermittler lehnten die libanesischen Machthaber ab. Die von ihnen kontrollierte Justiz hüllt sich in Schweigen. 25 Hafenleute sitzen in
Haft, doch kein einziger der verantwortlichen Politiker, die die Warnungen vor dem gefährlichen Depot jahrelang ignorierten. „Wir fordern Antworten“, schrieben Familien auf ihre Plakate, die mit Fotos gestorbener Angehöriger in den Straßen demonstrierten.
Milliardenschäden in Beirut
85.000 Wohnungen hat das libanesische Militär mittlerweile untersucht und die Schäden dokumentiert. Demnach gingen mindestens 1,2 Millionen Fensterscheiben zu Bruch und 140.000 Quadratmeter an Glasfassaden. 108.000 Türen wurden aus den Angeln gerissen, immer noch werden neun Personen vermisst.
163 Schulen wurden so stark beschädigt, dass kein Unterricht mehr möglich ist. 85.000 Kinder sind betroffen, das sind etwa ein Viertel aller Schüler. Insgesamt belaufen sich die Gebäudeschäden nach einer ersten Kalkulation der Weltbank auf 3,8 bis 4,6 Milliarden Dollar.
So katastrophal die Beiruter Explosion am 4. August war, sie ist nur ein Kapitel in der beispiellosen Multikrise des Zedernstaates. Seit Oktober 2019 fordern Massenproteste das Ende des religiös-konfessionellen Proporzsystems und einen fundamentalen Neuanfang.
Den Staatszerfall ins Rollen brachte vergangenen Herbst der Kollaps des Bankensektors, über den die politische und wirtschaftliche Elite jahrzehntelang ihre eigene Nation ausplünderte. Staatsanleihen finanzierte die Libanesische Zentralbank über die örtlichen Privatbanken, die dafür exorbitante Zinsen kassierten.
„Soll ich bleiben oder gehen?“
Dieses Schneeballsystem machte einheimische Finanz-Oligarchen reich und lockte einen ständigen Strom ausländischer Devisen an, ein Kartenhaus, das vor einem Jahr zusammenbrach. Gehälter, Pensionen und Spareinlagen verloren seitdem 85 Prozent ihres Wertes.
Frankreichs Präsident Macron stellte der Nomenklatura des Mittelmeerstaates ein letztes Ultimatum bis Mitte November. „Es ist an den politischen Repräsentanten des Libanon, diese letzte Chance zu nutzen“, erklärte er, während immer mehr Libanesen verzweifeln. Wie Alain Daou, Dozent an der Amerikanischen Universität von Beirut (AUC), geht es vielen. „Wieder bin ich um zwei Uhr nachts aufgewacht und frage mich: Tue ich das Richtige, wenn ich im Libanon bleibe?“, schrieb er. „Soll ich bleiben? Soll ich gehen? Was ist das Beste für meine Familie?“