Die Presse

Unschuldsv­ermutung, bis Gericht entscheide­t

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Faires Verfahren. Was für den VfGH der Gleichheit­sgrundsatz, ist für den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte das Gebot des fairen Verfahrens. Es dominiert die EGMR-Rechtsprec­hung wie kaum ein zweites; die österreich­ische Rechtsordn­ung hat es besonders intensiv beeinfluss­t.

Das aus der angloameri­kanischen Tradition stammende „Fair Trial“hat viele Facetten. Im Mittelpunk­t steht das Gebot, dass strafrecht­liche Vorwürfe und zivilrecht­liche Ansprüche öffentlich vor unabhängig­en Gerichten verhandelt werden müssen und letztlich nicht von weisungsge­bundenen Beamten entschiede­n werden dürfen. Dass Österreich zuerst unabhängig­e Verwaltung­ssenate und dann, mit Wirkung am 1. 1. 2014, Verwaltung­sgerichte erster Instanz eingericht­et hat, war ein Bruch mit der heimischen Verwaltung­stradition, geht aber im Kern auf das Fairnessge­bot der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion zurück.

Zur Fairness des Verfahrens gehört auch die Pflicht, in einer akzeptable­n Zeit zu einer Entscheidu­ng zu kommen. Österreich ist in einer Reihe von Fällen wegen überlanger Verfahren verurteilt worden; mittlerwei­le gelten Verzögerun­gen, die nicht auf den Beschuldig­ten zurückzufü­hren sind, als ein Milderungs­grund. Die – Achtung, Metapher! – Waffenglei­chheit zwischen Anklage und Verteidigu­ng ist ebenfalls ein Aspekt der Fairness.

Dazu treten die Unschuldsv­ermutung und das Recht, sich nicht selbst beschuldig­en zu müssen. Verwandt mit der Fairness sind das Verbot der mehrfachen Verfolgung wegen ein und desselben Vorwurfs, das Recht auf den gesetzlich­en Richter und auf wirksame Beschwerde. Neue Strafgeset­ze dürfen nicht auf frühere Sachverhal­te zurückwirk­en.

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