Warum der Verfassung „die Würde“fehlt
Elisabeth Holzleithner. Die Juristin und Rechtsphilosophin erklärt, inwiefern Verfassungsrechtsprechung „angewandte Moral“ist und warum die Menschenwürde sowohl für als auch gegen eine Liberalisierung bei der Suizidbeihilfe spricht.
Die Presse: Christoph Grabenwarter, Präsident des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), sagte unlängst im „Presse“-Interview: „Moral ist kein Maßstab für den VfGH.“Glauben Sie, der Satz hätte Hans Kelsen gefallen? Elisabeth Holzleithner: Ja. Der Satz atmet das Kelsen’sche Rechtsethos. Kelsen hat darauf bestanden, dass man Recht und Moral insofern strikt trennen muss, als man nicht aus moralischen Gründen etwas ins Recht hineininterpretieren soll. Die Frage ist allerdings, ob diese Trennung von Recht und Moral so absolut stimmt. Es kommt nämlich auf den Moralbegriff an. Man muss zwischen der konventionellen Moral, die auf Traditionen beruht – also darauf, dass man etwas immer schon so gemacht und beurteilt hat – und der postkonventionellen Moral unterscheiden. Letztere geht davon aus, dass jede Moralnorm vor dem Prinzip gleicher Freiheit bestehen muss. Diese gleiche Freiheit lässt sich aber auch als ein Grundprinzip aus unserer Verfassung herausdestillieren und zeigt sich übrigens auch im demokratischen und liberalen Prinzip. So betrachtet verhält es sich dann mit der Trennung von Recht und Moral nicht mehr so eindeutig.
Die Moral ist also doch der rote Faden im Hintergrund.
Vor allem bei den Grundrechten. Da es bei diesen im Kern um gleiche Freiheit geht und gleiche Freiheit zugleich ein zentrales Moralprinzip ist, ist Verfassungsrechtsprechung tatsächlich angewandte Moral. Aber eben angewandte postkonventionelle Moral.
In Deutschland haben viele Rechtsethiker gegen den CoronaLockdown protestiert. Ihr Argument war: Der Lebensschutz für das Kollektiv müsse gegen die Würde des Einzelnen abgewogen werden, und zu dieser gehöre auch ein Leben mit Sozialkontakten etc. Bei uns gab es zwar juristische Einwände, aber kaum ethische. Oder wurden die überhört? Es wurde in juristischen Kreisen viel über die Verhältnismäßigkeit diskutiert. Von einer Debatte darüber, inwiefern die Grundrechtseingriffe die Würde des Menschen verletzen würden, habe auch ich nichts gehört. Wir haben aber auch andere verfassungsrechtliche Voraussetzungen als in Deutschland. Während die deutsche Verfassung, also das Bonner Grundgesetz, in Artikel 1 die Würde des Menschen proklamiert, sucht man in der österreichischen Verfassung vergebens danach. Wir haben weder eine Würde-Proklamation noch so etwas wie das Recht auf individuelle Entfaltung, das man auch im Bonner Grundgesetz findet. Wir können all das zwar auch aus dem liberalen Prinzip der österreichischen Verfassung generieren bzw. das Recht auf Entfaltung aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ableiten. Trotzdem werden Sie österreichische Verfassungsrechtler und Verfassungsrechtlerinnen kaum je mit der Würde argumentieren hören. Das hat auch ein Stück weit mit Kelsen und der Trennung von Recht und Moral zu tun. Man fürchtet, über das Würde-Argument andere moralische Nomen ins Recht einzuschleppen, die rechtlich nicht verbürgt sind.
Hat es auch mit dem Würdebegriff zu tun, dass Deutschland einen anderen Zugang zum assistierten Suizid hat? In Österreich steht die Beihilfe zum Suizid unter Strafe, wobei diese Bestimmung gerade vom VfGH geprüft wird. Das deutsche Verfassungsgericht hat sich zuletzt für eine sehr liberale Lösung entschieden. Für eine sogar unglaublich liberale. Man hat eine gewerbsmäßige Unterstützung des Suizids erlaubt. Ich hätte nie damit gerechnet. Und zwar gerade wegen der Menschenwürde. Ich dachte, die wäre ein Bollwerk dagegen.
Das könnte man auch umgekehrt sehen und argumentieren, dass gerade die Würde des Einzelnen für eine Liberalisierung spricht. Da sieht man wieder, wie offen dieser Würdebegriff ist. Die einen sagen: Zur Würde gehört es, selbst über das Lebensende zu bestimmen. Die anderen interpretieren Würde so, dass sie mit ihr den individuellen, akut geäußerten Willen des Einzelnen überspielen und sagen: Du hast keine echte Einsicht in Wert und Würde deines Lebens.
Was denken Sie, wie wird der VfGH entscheiden?
Der Verfassungsgerichtshof hatte in den vergangenen Jahren immer wieder einmal ein offenes Ohr für neuere Entscheidungen aus Deutschland. So war es auch bei der dritten Option beim Personenstand. Da hat der Verfassungsgerichtshof zwar anders argumentiert als das deutsche Verfassungsgericht, aber sozusagen im selben Spirit. Eine echte Prognose abzugeben traue ich mich allerdings nicht. Ich glaube, es ist wirklich offen.
Spielen die Grundrechte in Deutschland generell eine größere Rolle als bei uns?
Da wäre ich vorsichtig. Selbstverständlich gibt es auch in Österreich eine hohe Kultur der Wahrung individueller Freiheitsrechte, was sich speziell in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs zeigt. Es wird nur anders argumentiert als in Deutschland. Bei uns steht die EMRK im Verfassungsrang, Grundrechtsjudikatur ist daher vor allem die Interpretation der EMRK. Was in Deutschland wiederum überhaupt nicht der Fall ist. Die Debatten über Grundrechtseingriffe durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie waren in Österreich vielleicht ein bisschen leiser als in Deutschland, aber sie haben schon stattgefunden. Vielleicht wurden sie ja auch von den Medien nicht so rezipiert.
Hat eigentlich die starke Betonung der individuellen Rechte gesellschaftlich nicht nur positive Folgen, sondern auch Nebenwirkungen? Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama warnte in seinem letzten Buch, „Identität“, davor, dass die Gesellschaft nicht mehr als großes Ganzes wahrgenommen wird, sondern in Gruppen zerfällt, die sich jeweils – wenn auch oft mit gutem Grund – als Opfer sehen und ihre Rechte einfordern.
Ich finde, dass diese Kritik an der Identitätspolitik – und Fukuyama ist da nicht der Einzige – ein bisschen gar nonchalant mit den Anliegen von strukturell benachteiligten Gruppen umgeht. Denken wir etwa an Lesben, Schwule und Transgender-Personen, die in Österreich lang diskriminiert und sogar strafrechtlich verfolgt wurden. Wenn sie beim Verfassungsgerichtshof einfordern, als gleichberechtigte, gleichermaßen freie Subjekte anerkannt zu werden, dann fordern sie einfach nur das Versprechen ein, das die Verfassung uns macht. Der zweite Teil von Fukuyamas Kritik betrifft den Vorwurf, dass man sich nur mehr in Gruppen zusammenfindet und nicht mehr bereit ist, sich als Teil des Staatswesens an sich zu sehen. Und nicht mehr bereit ist, dafür auch etwas zu opfern, um dieses nicht ganz unproblematische Wort zu verwenden. Oder um es mit Kennedy zu sagen – man fragt nicht mehr: „What can I do for this country?“Ich bin mir nicht sicher, ob das heute anders ist als früher.
Umgelegt auf unsere momentane Krise müsste man jedenfalls fragen: Bin ich bereit, mich so zu verhalten, dass ich anderen nicht schade? Bin ich bereit, für andere gewisse Mühseligkeiten zu ertragen, die eigene Selbstentfaltung zurückzufahren und zum Beispiel einen MundNasen-Schutz zu tragen, damit ich andere nicht anstecken kann?
In Österreich kennen wir keinen Verfassungspatriotismus. Warum? Ist Kelsen zu trocken?
Ich finde ja, dass genau die Trockenheit unserer Verfassung eine eigene Ästhetik hat. Ich habe innerlich jubiliert, als unser Bundespräsident im Vorjahr so oft von der eleganten Verfassung gesprochen hat. Sollte irgendwann ein Verfassungspatriotismus entstehen, dann haben wir das wahrscheinlich ihm zu verdanken. Aber wir haben diese Art von Verfassungspatriotismus einfach nie kultiviert. Die Verfassung von 1920 wurde für einen Staat geschrieben, von dem viele dachten, dass er zum Scheitern verurteilt wäre. Und nach dem Zweiten Weltkrieg hat man diese Verfassung, weil es einfacher war, rasch wieder in Geltung gesetzt. Auch da war sie in ihrer Trockenheit kein emotionaler Bezugspunkt.
Haben Sie so etwas wie einen Lieblingsverfassungsartikel?
Mir gefällt bereits, wie die Verfassung einsetzt: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“Das ist ziemlich stark. Wir haben keine Präambel, wir beginnen einfach. Wichtig ist mir auch Artikel 7, der die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz proklamiert, wobei ich nicht ganz glücklich darüber bin, dass die Formulierung nicht im Sinne des ersten Frauenvolksbegehrens um die Staatsbürgerinnen ergänzt wurde. Allerdings gibt es im Artikel 7 immerhin einen Verfassungsauftrag zur Gleichstellung der Geschlechter. Artikel 1 und 7 sind für mich eine gute Basis. Ergänzt um das liberale Prinzip ergibt das ein Ethos der gleichen Freiheit, auf dem man aufbauen kann.