Wer war Hans Kelsen?
Biografie. Kelsen war ein weltweit angesehener Jurist, der berühmteste Österreichs. Dennoch war seine Karriere hierzulande reich an Brüchen und Spannungen.
Wien. Wickenburggasse 23, Stiege 2, Tür 15. Hier, in der bürgerlichen Wiener Josefstadt, in der Wohnung des Ehepaares Hans und Margarete Kelsen, trafen sie regelmäßig ab 1913 ein: Juristen der Wiener Universität, Studenten und frischgebackene Absolventen. Sie folgten der Einladung zu einem Privatseminar bei Kelsen, sie hingen an seinen Lippen, diskutierten über rechtstheoretische Probleme, über Verfassung und Gesetz. Es waren zwanglose Gespräche, doch sie wurden mit heiligem Ernst geführt: Ein elektrisch beleuchtetes Schild an der verschlossenen Tür des Arbeitszimmers machte Ehefrau und Dienstmädchen darauf aufmerksam: kein Zutritt erwünscht. Ging das Licht aus, durften Kipferln und Kaffee hereingebracht werden. Die Gespräche wurden zu einer Institution, hier entstand ein Netzwerk, das Jahrzehnte überdauerte, hier ist der Ausgangspunkt der berühmten „Wiener rechtstheoretischen Schule“.
Assimilationsbereite Wiener Juden
Rund ein Fünftel der Jus-Studenten an der Wiener Universität war damals jüdisch, auch die Wurzeln der Familie Kelsen gehen zurück in die galizische Grenzregion der Habsburgermonarchie. Von hier zog die assimilationsbereite jüdische Familie zuerst nach Prag, wo 1881 Hans zur Welt kam, und dann nach Wien. Ohne Konfessionswechsel waren hier die Aufstiegschancen gering. Auch Kelsen konvertierte und wählte die wissenschaftliche Laufbahn. Ein schwieriger Weg: Wie sollte einer wie er im konservativ-katholischen bis deutschnationalen, jedenfalls aber antisemitischen Milieu der Wiener Juristenfakultät reüssieren?
Kelsen stürzte sich 1906 auf das die Innenpolitik beherrschende Thema Wahlrecht, ohne allerdings in seinen Analysen auf die politischen Verhältnisse einzugehen. Sein wissenschaftliches Ideal der Methodenfreiheit wird erkennbar: Er vermischt nicht, was und wie das Recht ist, mit der Frage, wie es sein soll. Es gebe zwischen beiden keine logische Brücke, man könne nicht von dem einen auf das andere schließen. Die Vermengung sei eine unzulässige Kompetenzüberschreitung der Jurisprudenz. Kelsen blieb es vorbehalten, so Rechtshistoriker Thomas Olechowski, „die Lehre von der Wesensverschiedenheit von Sein und Sollen zu höchster Perfektion zu führen“.
Das nötige wirtschaftliche Sicherheitsnetz nach der Gründung einer Familie kam für Kelsen zunächst zehn Jahre lang von einem Posten als Beamter im k. u. k. Handelsmuseum. Kelsens Tätigkeit als Staatsbeamter erinnert an Franz Grillparzer: Die Büroarbeit bot viel Freiraum, Zeit zum Denken und Schreiben. Die Zeit an der Exportakademie wurde „Achsenzeit einer Weltkarriere“genannt.
Kelsens Habilitationsschrift von 1911, „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“, behandelte zentrale Probleme der Rechtstheorie, die ihn sein ganzes Leben nicht loslassen sollten und später als „Reine Rechtslehre“bezeichnet wurden. Die bereits angeführte Trennung von Sein, also Sätzen über Faktisches, und Sollen, also Sätzen über Normatives, wird apodiktisch und scharf vollzogen. Die wissenschaftliche Beschreibung des Rechts wird strikt von fremden