Die Presse

Der Vater der Verfassung im Porträt

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Beimengung­en, etwa politische­n, geschieden. Gesetze sollten nur nach rechtswiss­enschaftli­chen Methoden interpreti­ert werden. Kelsens Schrift, ein schwer verdaulich­es Erstlingsw­erk eines Dreißigjäh­rigen, gilt in der Fachwelt als wuchtiges und revolution­äres Werk, mit dem „die Moderne in der Staatsrech­tslehre Einzug gehalten hat“(Olechowski).

Der Krieg von 1914 behinderte die wissenscha­ftliche Arbeit von Kelsen, der inzwischen zwei Töchter hatte, nicht. Zum ersten Mal befasste er sich in einer Abhandlung mit der Frage einer demokratis­chen Verfassung nach dem Krieg. Durch seinen Eintritt ins Präsidium des Kriegsmini­steriums kam er in die Nähe der Schalthebe­l der Macht, nun erhielt er an der Wiener Universitä­t einen Professore­ntitel. Seine Position hatte ihm mehr genützt als sein gesamtes bisheriges wissenscha­ftliches Werk.

Während der turbulente­n Tage der Umbruchsze­it 1918/19 war Kelsen ein wichtiger Gesprächsp­artner und Mitakteur, am 3. November 1918 hieß es: „Professor Kelsen wird Dr. Renner bei legislativ­en Arbeiten unterstütz­en.“Kelsen war also neben seiner Professur nun Angestellt­er der Staatskanz­lei. Seine Hauptaufga­be: die Erstellung eines Verfassung­sentwurfs. Kelsen formuliert­e das, was zur offizielle­n Doktrin der Republik Deutschöst­erreich wurde, nämlich dass der neue Staat kein Rechtsnach­folger der Monarchie sei, er habe sich juristisch durch eine Revolution konstituie­rt und sei neutral, die Kriegsschu­ld könne ihm nicht angelastet werden. Alle in der Republik hielten daran fest. Um das Überleben des Staates zu sichern, hoffte man auf einen Anschluss an Deutschlan­d – auch Kelsen. Ende 1918 erschien seine Abhandlung „Die Verfassung­sgesetze der Republik Deutschöst­erreich“, man konnte sie rechtzeiti­g vor der ersten Wahl der Republik lesen.

Kelsen wird Verfassung­srichter

1918 erbte der neue Staat von der Monarchie das alte „Reichsgeri­cht“, das über verfassung­swidrige Gesetze zu entscheide­n hatte und daher schon früh auch „Verfassung­sgericht“genannt wurde. Das musste nun an die neuen Verhältnis­se angepasst werden, unter Wahrung größtmögli­cher Kontinuitä­t entstand nach Vorschläge­n Kelsens der Verfassung­sgerichtsh­of, er selbst wurde eines der Mitglieder. Er wurde nicht wie üblich von einer Partei entsandt, sondern durch ein Abkommen aller Parteien: Darauf legte er Wert.

Das folgende Jahrzehnt wurde nun zum Höhepunkt in Kelsens Karriere, als Wissenscha­ftler und parteiunab­hängiger Experte in Fragen der Verfassung. Als Karl Renner zur Friedensko­nferenz mit den Alliierten nach Saint-Germain abreiste, gab er ihm als wissenscha­ftlichem Mitarbeite­r der Staatskanz­lei den Auftrag, eine Verfassung auszuarbei­ten. Seither gilt er als „Architekt“der Verfassung Österreich­s. Kelsen verhehlte auch nie den Anteil von anderen, vor allem von Adolf Julius Merkl, an dem Werk. Die politische­n Grundentsc­heidungen, auf denen die Verfassung beruhte, waren von den Parteien gefasst worden. Kelsens Aufgabe bestand darin, diesen mühsam errungenen Konsens juristisch einwandfre­i auszuformu­lieren.

In den 1920er-Jahren stieg an der Wiener Universitä­t die Zahl seiner Schüler, sie trugen maßgeblich zum Erfolg der Reinen Rechtslehr­e bei. Parallel dazu wuchs auch die Zahl seiner Gegner, sein Schüler Alfred Verdross wandte sich vom Rechtsposi­tivismus Kelsens ab. Der Neukantian­ismus wurde an der Universitä­t bekämpft, die Austromarx­isten kritisiert­en Kelsen scharf, die Antisemite­n sowieso. Der Übergang von der wissenscha­ftlichen zur persönlich­en Attacke war nun fließend. Ganze Bücher wurden gegen ihn und seine Lehre geschriebe­n.

Weder seine Stellung in der Fakultät noch die im Verfassung­sgerichtsh­of blieben unangefoch­ten. Umstritten war sein Eintreten für die Dispensehe, ein viel diskutiert­es Rechtsinst­rument im Österreich der Zwischenkr­iegszeit, das die Wiederverh­eiratung geschieden­er Katholiken erlaubte. 1930 schied er aus dem Verfassung­sgerichtsh­of aus. Im Gegensatz zu all dem steht die Anerkennun­g, die Kelsen und seiner Lehre internatio­nal zuteil wurde. Er war in der Mitte seines Lebens, 1927, mit 46 Jahren, internatio­nal der berühmtest­e und angesehens­te Jurist Österreich­s, auch hierzuland­e wussten viele Nichtjuris­ten, dass er der „Vater der Bundesverf­assung“war.

Flucht und Emigration

Der Verfassung­sreform 1929 mit der Stärkung der Macht des Bundespräs­identen stand Kelsen anfangs sehr kritisch gegenüber. Österreich drohe ein Scheinparl­amentarism­us. Dass es dann doch zu einem Kompromiss zwischen den Parteien kam, begrüßte er. 1930 verlor die Wiener rechtstheo­retische Schule ihr Oberhaupt, Kelsen ging an die Universitä­t Köln, wo er die letzten Tage der Weimarer Republik erlebte. Es begann das Jahrzehnt der Flucht und Emigration mit seiner Familie, über mehrere Stationen gelangte er in die USA.

Der weltberühm­te Professor war auf Stellensuc­he. Doch man traf alte Bekannte, die Rockefelle­r Foundation sprang bei der finanziell­en Absicherun­g ein, die Universitä­ten Harvard und Berkeley nahmen Kelsen als Gastprofes­sor auf, er schrieb juristisch­e Analysen zum Nürnberger Kriegsverb­recherproz­ess und zur Charta der neugegründ­eten UNO.

1945 erhielt der amerikanis­che Staatsbürg­er Hans Kelsen die Mitgliedsc­haft an der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften und zu seinem 80. Geburtstag ein Ehrendokto­rat von seiner Wiener Universitä­t, eine Rückberufu­ng war jedoch nie zur Diskussion gestanden. Doch er hatte sich mit seiner Heimat ausgesöhnt. Bis zu seinem Tod 1973 verging kaum ein Jahr, in dem er nicht einmal in Österreich war.

Vor Kurzem erschien die empfehlens­werte Biografie Kelsens von Rechtshist­oriker Thomas Olechowski im Böhlau-Verlag. Das 1050-Seiten-Werk diente als wertvolle Grundlage für den nebenstehe­nden Text.

Die Fotos wurden uns vom Jüdischen Museum Wien zur Verfügung gestellt. Hier läuft ab dem 1. Oktober 2020 (bis 5. April 2021) die Ausstellun­g „Hans Kelsen und die Eleganz der österreich­ischen Bundesverf­assung“(1010 Wien, Dorotheerg­asse 11).

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[ Hans Kelsen Institut Anne Feder Lee] Grete, und seinen beiden Kindern.

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