Der Jurist und die roten Parteigänger
Hans Kelsen hatte zu den Parteien wenig Berührungsängste, er war befreundet mit der roten Hautevolee.
Während des Ersten Weltkriegs wurde Hans Kelsen vertraut mit der austromarxistischen Szene, er knüpfte Kontakte zu dem gleichaltrigen Otto Bauer, dann Karl Renner, Max Adler, zur Familie Broda. Kelsen wurde 1916 Taufpate von Christian Broda, mehr als ein halbes Jahrhundert danach sollte ihn eben dieser Christian Broda als Justizminister der Regierung Bruno Kreisky in Wien empfangen. Hilda Schärf, die Ehefrau von Adolf Schärf, besuchte Kelsens volksbildnerische Vorlesungen.
In der Auseinandersetzung mit Marx, Engels und Lenin und dem in Russland an die Macht gekommenen radikalen Sozialismus entwickelte Kelsen einen guten Teil seiner eigenen Vorstellungen von der Demokratie. Zu seinen Freunden gehörten Mitglieder aller politischen Richtungen, auch der christlichsoziale Parteiführer Ignaz Seipel. Er war stets um parteipolitische Neutralität bemüht, weder mit dem einen noch dem anderen Lager hatte er als Professor allzu intensive Kontakte, aber Berührungsängste waren ihm ebenfalls fremd. So begannen in der politisch angespannten Lage der Ersten Republik die Antisemiten, Kelsen als Sozialisten zu brandmarken, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass Kelsen die marxistische Staatstheorie anprangerte.
Ein „Outing“für das Rote Wien?
Vier Tage vor dem Super-Wahlsonntag vom 24. April 1927 erschien in der „Arbeiter-Zeitung“die „Kundgebung des geistigen Wien“, eine Unterstützungserklärung von Wissenschaftlern und Künstlern, die nachdrücklich auf die großen sozialen und kulturellen Leistungen der roten Wiener Stadtverwaltung hinwiesen. Unter den Unterzeichnern war auch Kelsen. Warum er den Aufruf unterschrieben hat, ist unklar, Freunde machte er sich mit dieser Art von „Outing“bei der bürgerlichen Seite jedenfalls nicht.
Die Bitte des Wiener SP-Bürgermeisters Karl Seitz, als Vertrauensmann der Partei im Verfassungsgerichtshof zu wirken, lehnte er entschieden ab. 1930 sagte Karl Renner im Parlament: „Wenn die Rechte vielleicht meint, dass Kelsen ein Marxist ist, dann bemerke ich, dass sie falsch berichtet ist“, er habe sehr oft nicht im Interesse der Partei entschieden. (G.H.)