Mitten drin, statt nur dabei
Willensbildung in der EU. Keine Spur vom oft heraufbeschworenen „Bundesstaat Europa“. Kleinere Mitglieder wie Österreich haben ziemlich wirksame Mittel, um sich Gehör zu verschaffen.
Brüssel. In der Nationalratsdebatte vom 9. April 2008 griff HeinzChristian Strache, damals noch Parteichef der FPÖ, rhetorisch in die Vollen. Der EU-Vertrag von Lissabon, dessen Ratifizierung anstand, sei ein „europäisches Verfassungsdiktat“, ein „Anschlag auf die österreichische Verfassung“und darüber hinaus ein „Anschlag auf unsere österreichische Demokratie“. Ohne Volksabstimmung dürfe die Republik ihn nicht annehmen, forderte die FPÖ und zog in dieser Frage sogar vor den Verfassungsgerichtshof. Den überzeugte sie mit ihren juristischen Argumenten jedoch ebenso wenig wie die übrigen Parteien im Nationalrat nach mehr als siebenstündiger Debatte am selben Tag mit ihren politischen: 151 zu 27 lautete die Mehrheit für den Vertrag, weit jenseits der Schwelle von zwei Dritteln der Abgeordneten.
Grenzen der Brüsseler Macht
Die Klage erklingt, seit ernsthaft über Österreichs Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in weiterer Folge der EU, verhandelt wurde: Souveränität geht verloren, im fernen Brüssel wird über die Köpfe der österreichischen Bürger hinweg entschieden. Daraus lässt sich innenpolitisch leicht Kleingeld schlagen. Einer nüchternen juristischen Prüfung der Sachlage hält dies jedoch nicht statt, wie der Völkerrechtler Gerhard Hafner, Emeritus an der Universität Wien, in einem Aufsatz für das „Austrian Law Journal“anschaulich durchdeklinierte.
Gewiss, als Österreich der EU beitrat, wurden gleich mehrere der Prinzipien der Bundesverfassung berührt: das demokratische (Recht wird nun auch von europäischen Institutionen gesetzt, die nicht unmittelbar demokratisch legitimiert sind, allen voran der Rat), das rechtsstaatliche (der VfGH muss sich sein Normprüfungsmonopol mit den beiden Gerichten in Luxemburg teilen) und das bundesstaatliche (manche Landeskompetenzen wurden an Organe der EU übertragen). Darum gab es schließlich auch die Volksabstimmung vom 12. Juni 1994.
Aber schon die Idee, im Zuge der europäischen Integration gehe gleichsam naturgesetzlich nationalstaatliche Souveränität verloren, ist verquer. Der Lissabonner Vertrag beispielsweise stärkte die nationalen Regierungen, indem der Europäische Rat formalisiert und aufgewertet wurde. Und er festigte das Subsidiaritätsprinzip kraft eines ihm eigens angefügten Protokolls 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Wenn mehrere nationale Parlamente der Ansicht sind, dass ein Richtlinien- oder Verordnungsentwurf der Kommission gegen den Grundsatz verstößt, dass Dinge so nahe am Bürger wie möglich zu regeln sind, können sie binnen acht Wochen die gelbe Karte zücken. Sammeln sie mehr als ein Drittel der ihnen zugewiesenen Stimmrechte, muss die Kommission ihren Entwurf überarbeiten. Dreimal kam die gelbe Karte bisher zum Einsatz, allerdings hielt die Kommission jedes Mal nach Prüfung der Lage an ihrem Vorschlag fest, weil zu wenige Parlamente sich zusammenschlossen.
Österreich musste sich im Zuge seiner Teilnahme an der Union jedoch einigen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Problemen stellen. Wie verhält es sich beispielsweise, wenn die EU im Rahmen ihrer Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik Sanktionen gegen Drittstaaten beziehungsweise deren Angehörige erlässt? Wirft das nicht Fragen der Neutralität auf? Seit 2010 ist dies durch die Hinzufügung von Artikel 23j zum Bundes-Verfassungsgesetz geklärt. An Österreich scheitern Sanktionen jedenfalls nicht, wie die aktuellen Blockaden rund um Weißrussland und die Türkei zeigen. Sollte der (hypothetische) Fall eintreten, dass die EU militärische Aktionen durchführt, könnte Österreich nach Irlands Vorbild selber befinden, ob und wenn ja, in welchem Rahmen es teilnimmt.
Demokratische Baustellen
Auch in gesellschaftlich sensiblen Fragen wie der Atomkraft oder dem Einsatz gentechnologisch veränderten Saatgutes konnte und kann die EU Österreich nichts oktroyieren. Im Fall der Atomkraft gilt das Prinzip, dass jeder Mitgliedstaat seinen Energiemix in Eigenregie festlegt, jedoch auch umgekehrt. Darum erlitt die Republik vor dem Gerichtshof der EU in der Frage der Förderung des britischen Atomkraftwerks Hinkley Point eine erwartbare Niederlage. Einige demokratische Baustellen bleiben in der EU jedoch offen. Ist zum Beispiel die Euro-Gruppe in ihrer fast totalen Diskretion tragbar? Eine Konferenz über die Zukunft Europas soll binnen zwei Jahren die Grundlage für etwaige Vertragsänderungen bereiten. Ihr Beginn steht jedoch ebenso noch in den Sternen wie ihre Erfolgsaussicht.