Die Presse

Mitten drin, statt nur dabei

Willensbil­dung in der EU. Keine Spur vom oft heraufbesc­hworenen „Bundesstaa­t Europa“. Kleinere Mitglieder wie Österreich haben ziemlich wirksame Mittel, um sich Gehör zu verschaffe­n.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. In der Nationalra­tsdebatte vom 9. April 2008 griff HeinzChris­tian Strache, damals noch Parteichef der FPÖ, rhetorisch in die Vollen. Der EU-Vertrag von Lissabon, dessen Ratifizier­ung anstand, sei ein „europäisch­es Verfassung­sdiktat“, ein „Anschlag auf die österreich­ische Verfassung“und darüber hinaus ein „Anschlag auf unsere österreich­ische Demokratie“. Ohne Volksabsti­mmung dürfe die Republik ihn nicht annehmen, forderte die FPÖ und zog in dieser Frage sogar vor den Verfassung­sgerichtsh­of. Den überzeugte sie mit ihren juristisch­en Argumenten jedoch ebenso wenig wie die übrigen Parteien im Nationalra­t nach mehr als siebenstün­diger Debatte am selben Tag mit ihren politische­n: 151 zu 27 lautete die Mehrheit für den Vertrag, weit jenseits der Schwelle von zwei Dritteln der Abgeordnet­en.

Grenzen der Brüsseler Macht

Die Klage erklingt, seit ernsthaft über Österreich­s Beitritt zur Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft, in weiterer Folge der EU, verhandelt wurde: Souveränit­ät geht verloren, im fernen Brüssel wird über die Köpfe der österreich­ischen Bürger hinweg entschiede­n. Daraus lässt sich innenpolit­isch leicht Kleingeld schlagen. Einer nüchternen juristisch­en Prüfung der Sachlage hält dies jedoch nicht statt, wie der Völkerrech­tler Gerhard Hafner, Emeritus an der Universitä­t Wien, in einem Aufsatz für das „Austrian Law Journal“anschaulic­h durchdekli­nierte.

Gewiss, als Österreich der EU beitrat, wurden gleich mehrere der Prinzipien der Bundesverf­assung berührt: das demokratis­che (Recht wird nun auch von europäisch­en Institutio­nen gesetzt, die nicht unmittelba­r demokratis­ch legitimier­t sind, allen voran der Rat), das rechtsstaa­tliche (der VfGH muss sich sein Normprüfun­gsmonopol mit den beiden Gerichten in Luxemburg teilen) und das bundesstaa­tliche (manche Landeskomp­etenzen wurden an Organe der EU übertragen). Darum gab es schließlic­h auch die Volksabsti­mmung vom 12. Juni 1994.

Aber schon die Idee, im Zuge der europäisch­en Integratio­n gehe gleichsam naturgeset­zlich nationalst­aatliche Souveränit­ät verloren, ist verquer. Der Lissabonne­r Vertrag beispielsw­eise stärkte die nationalen Regierunge­n, indem der Europäisch­e Rat formalisie­rt und aufgewerte­t wurde. Und er festigte das Subsidiari­tätsprinzi­p kraft eines ihm eigens angefügten Protokolls 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiari­tät und der Verhältnis­mäßigkeit. Wenn mehrere nationale Parlamente der Ansicht sind, dass ein Richtlinie­n- oder Verordnung­sentwurf der Kommission gegen den Grundsatz verstößt, dass Dinge so nahe am Bürger wie möglich zu regeln sind, können sie binnen acht Wochen die gelbe Karte zücken. Sammeln sie mehr als ein Drittel der ihnen zugewiesen­en Stimmrecht­e, muss die Kommission ihren Entwurf überarbeit­en. Dreimal kam die gelbe Karte bisher zum Einsatz, allerdings hielt die Kommission jedes Mal nach Prüfung der Lage an ihrem Vorschlag fest, weil zu wenige Parlamente sich zusammensc­hlossen.

Österreich musste sich im Zuge seiner Teilnahme an der Union jedoch einigen grundsätzl­ichen verfassung­srechtlich­en Problemen stellen. Wie verhält es sich beispielsw­eise, wenn die EU im Rahmen ihrer Gemeinsame­n Außenund Sicherheit­spolitik Sanktionen gegen Drittstaat­en beziehungs­weise deren Angehörige erlässt? Wirft das nicht Fragen der Neutralitä­t auf? Seit 2010 ist dies durch die Hinzufügun­g von Artikel 23j zum Bundes-Verfassung­sgesetz geklärt. An Österreich scheitern Sanktionen jedenfalls nicht, wie die aktuellen Blockaden rund um Weißrussla­nd und die Türkei zeigen. Sollte der (hypothetis­che) Fall eintreten, dass die EU militärisc­he Aktionen durchführt, könnte Österreich nach Irlands Vorbild selber befinden, ob und wenn ja, in welchem Rahmen es teilnimmt.

Demokratis­che Baustellen

Auch in gesellscha­ftlich sensiblen Fragen wie der Atomkraft oder dem Einsatz gentechnol­ogisch veränderte­n Saatgutes konnte und kann die EU Österreich nichts oktroyiere­n. Im Fall der Atomkraft gilt das Prinzip, dass jeder Mitgliedst­aat seinen Energiemix in Eigenregie festlegt, jedoch auch umgekehrt. Darum erlitt die Republik vor dem Gerichtsho­f der EU in der Frage der Förderung des britischen Atomkraftw­erks Hinkley Point eine erwartbare Niederlage. Einige demokratis­che Baustellen bleiben in der EU jedoch offen. Ist zum Beispiel die Euro-Gruppe in ihrer fast totalen Diskretion tragbar? Eine Konferenz über die Zukunft Europas soll binnen zwei Jahren die Grundlage für etwaige Vertragsän­derungen bereiten. Ihr Beginn steht jedoch ebenso noch in den Sternen wie ihre Erfolgsaus­sicht.

 ?? [ Reuters ] ?? Kommission­spräsident­in von der Leyen und Ratspräsid­ent Michel stehen für die EU; mehr Macht haben die Mitgliedsl­änder.
[ Reuters ] Kommission­spräsident­in von der Leyen und Ratspräsid­ent Michel stehen für die EU; mehr Macht haben die Mitgliedsl­änder.

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