Was einer vom Mars über unsere Krawatten denken würde
Statt Krawatten tragen wir jetzt Masken, die Umsätze brechen ein. Dabei sind zu diesem sonderbaren Ding noch so viele Fragen offen. Gibt es wirklich 85 Arten, Krawatten zu binden?
Fünfzig Prozent betrage der Umsatzrückgang bei Krawatten, lautete die Nachricht. Firmen würden jetzt Masken statt Krawatten produzieren. Ja, die Krawatte! Sie ist ein sonderbar Ding. Nehmen wir an, ein Anthropologe vom Mars käme auf die Erde und wollte deren Bewohner erforschen. Zuerst fiele ihm wohl der Unterschied zwischen Weibchen und Männchen auf. Bei Letzteren würde er sehen, dass sich manche kunstvoll ein schmales Stoffband um den Hals binden. Wahrscheinlich, dächte unser Marsbewohner, möchten sie damit den Unterschied zwischen Kopf und übrigem Körper betonen und zeigen, dass sie keiner Arbeit nachgehen müssen, bei der ihnen das Ding um den Hals hinderlich wäre. Überraschen würde ihn, dass der Name für diese männliche Zier militärischen Ursprungs ist und von den „cravates royaux“, den „königlichen Kroaten“in französischen Diensten kommt – und ihren Halsbändern. In der Wiener Mundart könnte er in der lautlichen Nähe von „Krawatt’n“zu „Krowot’n“sogar einen Hinweis darauf finden.
Sollte unser Marsbesucher zur Fachliteratur greifen, stieße er rasch auf das englische Buch „Neckclothiana“aus dem Jahr 1818, eine Bibel der Krawattenliebhaber. Würde er erkennen, wie eng darin Realität und Satire miteinander verbunden sind?
Geschrieben wurde das Buch für britische Kolonialbeamte in Indien. Die Krawatte solle ihren Trägern „an apparent feeling of superiority“geben. Turmhoch stünden sie über dem Rest der Menschheit, erfüllt von Abscheu gegenüber den krawattenlosen Eingeborenen. Die Krawatte hebe die Kolonialherren vom Mob ab. Sie sei das Mittel, allen plebejischen Ideen von menschlicher Gleichheit einen Riegel vorzuschieben!
Nach dieser Lektüre würde sich unser Mars-Anthropologe Fragen stellen: Warum haben dieselben Kolonialherren von den Indern den „Cumer“-Bund übernommen, den die Deutschen dann zum „Kummerbund“verballhornt haben? Ist es von tieferer Bedeutung oder bloßer Zufall, dass Napoleon in den siegreichen Schlachten von Wagram und Austerlitz eine schwarze Seidenkrawatte getragen habe, in Waterloo jedoch ein weißes Halstuch? Meinte Lord Byron wirklich, die Krawatte würde den Reichtum seiner Fantasie einengen?
Warum führen die Streifen europäischer Krawatten von links oben nach rechts unten, während sie in den
USA oft von rechts oben nach links unten weisen? Weshalb bezeichnet im französischen Argot die „grüne Krawatte“einen Zuhälter, im Englischen die „rote Krawatte“das Fallbeil und die „Hanfkrawatte“den Henkersstrick? Gibt es wirklich 85 Arten, Krawatten zu binden? Warum fanden sich leicht bekleidete Frauen auf der Innenseite der Dolce&Gabbana-Krawatten? Und weshalb sind diese auch unter politisch korrekten Erdenbewohnern begehrte Sammlerstücke?
Kopfschüttelnd ob all dieser Fragen würde unser Anthropologe auf den Mars zurückkehren. Ich hätte ihm gesagt: Halber Windsorknoten, die Enden gleich lang, den rückwärtigen Teil durch das Passantino gefädelt – und alles endet eine Handbreit über der Gürtelschnalle. Das ist genug. So einfach ist’s.
E-Mails an: kurt.scholz@me.com