Corona, wenig Sex, viel Schnaps
Werk X. Martin Gruber zeigt „Bürgerliches Trauerspiel“mit dem Aktionstheater Ensemble: Ein gut gespieltes Spektakel, aber mit vorhersehbarem Humor und oft erschreckend banal.
Ein Schrei, teils wohltönend, teils voll abgrundtiefer Verzweiflung beendet den Abend: Nadine Abado, SingerSongwriterin, hat statt dem letzten Wort den letzten Ton bei einer Performance, die sich um Corona, Quarantäne und Fake News dreht. Im Werk X in Meidling zeigt Martin Grubers Aktionstheater Ensemble die Uraufführung von „Bürgerliches Trauerspiel“.
Dieses Genre wurde im 18. Jahrhundert in Paris und London erfunden und kam von da nach Deutschland, wo es Lessing und Schiller diente, die Tragik des aufstrebenden Bürgertums vorzuführen. Explizit tragen die Gattungsbezeichnung Werke wie „Kabale und Liebe“oder „Emilia Galotti“. In beiden Dramen geht es um die Willkür der Aristokraten. Schillers Musikus Miller und Lessings Odoardo Galotti unterliegen im Kampf um ihre Töchter. Louise Miller verliebt sich in den Adelssproß Ferdinand von Walter, Emilia Galotti wird Opfer der Nachstellungen des Prinzen von Guastalla . . .
Gulasch kochen, Keller aufräumen
Nun erwartet keiner bei einer Aufführung mit aktuellem Stoff, die den Titel „Bürgerliches Trauerspiel“trägt, dass dieser anders als ironisch gemeint ist. Das neueste bürgerliche Trauerspiel (wieso eigentlich bürgerlich? Traf Corona nicht alle?) zeigt Menschen, die sich drehen und winden unter dem Eindruck einer Krise, der sich keiner entziehen kann. Majestät der Sprache? Unausweichliche Konflikte? Keine Rede davon.
Eine Frau resümiert ihren Alkoholkonsum, den sie in einem Büchlein notiert hat: 63 Schnäpse im März, wegen Geburtstag. Da hilft nur Gulasch kochen, gleich viel Zwiebel und Fleisch! Michaela Bilgeri ist das einzige weibliche Wesen auf der Bühne. Die anderen sind Männer. Namen und Rollen sind ident. Thomas (Kolle) wollte zu Papa und Mama nach Kärnten reisen, was wegen Corona unmöglich war. Die Familienphilosophie schwankt kurios zwischen Gerüchten und dunklen Mächten, anscheinend informiert man sich über Videos (Fake?) auf YouTube. Thomas masturbiert minutenlang.
Horst (Heiß) muss in Quarantäne, er klammert sich an seine Frau und räumt seinen Keller auf. Dort findet er ein Kruzifix, das er freilich gleich auf Willhaben stellt, die Internetplattform für Gebrauchtes. Die vielfältigste und eindruckvollste Figur ist Benjamin (Vanyek). Er zitiert Schnitzlers „Weihnachtseinkäufe“, hüllt sich in eine historische Robe und zeigt seine Zahnlücken, die ihm beim Militär bei einer Vergewaltigung durch Kollegen verpasst wurden.
Regisseur Martin Gruber sorgt wie stets für lebendiges Spiel, in dem – oh, wie originell! – Drahtkäfige das weggesperrte Dasein der Charaktere illustrieren und heftiges Schlagzeuggetöse ihre Ausbruchsversuche.
Zwischendurch werden Literatur, Politik und Wirtschaft bemüht. Paula Wessely zwischen Schnitzler und dem NS-Propagandafilm „Heimkehr“, wie lang wird das noch strapaziert? Wessely-Tochter Christiane Hörbiger, die Kurz lobt, die türkis-grüne Koalition (Werner Kogler im Publikum schien etwas müde den Kapriolen auf der Bühne zu lauschen) – und natürlich die fiese Wirtschaft: Hedgefonds, die auf Währungen spekulieren. Das Theater hat wenig Bezug zum Geld, das merkt man immer wieder, es fällt ihm einfach nichts Verblüffendes oder Erhellendes zur Finanzwelt ein. Außer: urböse!
Zentnerschwere Mahnungen
Hätte man tiefer geschürft, dann hätte man, witzig oder melancholisch, von Einöde und Refugium erzählen können. Und davon, dass Flucht allgegenwärtig ist, der Begriff schlechthin für unsere Zeit (oder für alle Zeiten?). Die einen flüchten aus ihrem Zimmer, die andern nach Europa, viele bleiben eingekerkert.
Avisiert wurde „Bürgerliches Trauerspiel“(der Untertitel lautet „Wann beginnt das Leben“) mit zentnerschweren Mahnungen: „Welt aus den Fugen“, Populisten, Pandemie, Kollaps der Natur. Es ist manchmal ganz lustig, wirkt aber überwiegend erschreckend banal. Bis auf den Schluss, den Schrei.