Von der Pflicht zur Demokratiepflege
Zum 100. Geburtstag der österreichischen Bundesverfassung ist das historische Regelwerk als Fundament unseres Staates zu würdigen.
Selbst in schwierigen Zeiten wurden in unserem Land aus Regierungskrisen keine Staatskrisen. Zu verdanken ist das auch der österreichischen Bundesverfassung, die heute, am 1. Oktober, 100 Jahre alt wird. Das Parlament blieb handlungsfähig und eine Sedisvakanz bedeutete nicht, dass die Aufgaben des Staatsoberhauptes nicht mehr erfüllt werden konnten.
Freilich können die Bundesverfassung und die Bausteine, auf denen sie fußt, immer nur jene Stärke entfalten, die wir ihr als Gesellschaft zuzugestehen und auch zu verteidigen bereit sind. Denn die verfassungsrechtlichen Prinzipien sind keineswegs Selbstverständlichkeiten oder Selbstläufer. Sie richten sich an die politischen Verantwortungsträger und staatlichen Organe im selben Maße wie an alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Von ihnen allen hängt ab, welchen Stellenwert das Verfassungsrecht hat, wie unsere Verfassungswirklichkeit also tatsächlich aussieht.
Dies hat der Präsident des Verfassungsgerichtshofes, Christoph Grabenwarter, im Rahmen seiner diesjährigen Eröffnungsrede bei den Salzburger Festspielen zum Ausdruck gebracht, indem er auf die seit Jahrzehnten bestehende Leistungsfähigkeit der österreichischen Bundesverfassung hinwies und meinte, dass man darauf „stolz“sein könne.
Immunsystem der Verfassung
Grabenwarter sagte bei diesem Anlass: „Ein solcher bescheidener Stolz ist die Grundlage für zwei Aufgaben der Zivilgesellschaft: zum einen, das Immunsystem der Verfassung gegen Gefährdungen der Demokratie zu stärken, zum anderen, das Bewusstsein für die Verletzlichkeit der liberalen Demokratie wachzuhalten.“
Wer also die Grundwerte unserer Verfassung bejaht, der bejaht auch die „Pflicht zur Demokratiepflege“. Demokratie ist mehr als eine Staatsform, sie ist Haltung und Denkform, deren Kern die aktive Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger – der Zivilgesellschaft – am politischen und staatlichen Handeln darstellt.
Der Appell zur Stärkung des Immunsystems der Verfassung durch aktive Demokratiepflege ist nicht dem hohen Alter unserer „Jubilarin“geschuldet. Vielmehr geht es um die Erhaltung und Verteidigung einer stabilen Werteordnung, die die Lebensader unserer Demokratie darstellt und uns Schutz vor demokratiefeindlichen Auswüchsen bietet. Die Bundesverfassung ist auch ein politischer Datenspeicher für sensible historische Lektionen, die unser Land lernen musste.
Zunächst sind es die politischen Verantwortungsträger, die täglich dazu beitragen, wie es um die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in staatliche Organe und Institutionen bestellt ist. Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung stehen gleichrangig nebeneinander und sind untrennbar miteinander verbunden. Über alledem steht das Volk als Souverän.
Spiel mit dem Feuer
Wer allerdings glaubt oder glauben machen will, dass das „Parlament“als Summe gewählter Volksvertreter und „das Volk“voneinander unabhängige Elemente in unserem Staatsgefüge darstellen, von denen das eine „bestimmt“und das andere „entscheidet“, verkennt und schwächt das Wesen der repräsentativen Demokratie und treibt ein gefährliches Spiel mit dem antiparlamentarischen Feuer.
Gradmesser für den Zustand unserer Demokratie ist, ob dem Parlament als Gesetzgebungsorgan seitens der Vollziehung auf Augenhöhe begegnet und Gesetzesvorhaben unter Einbindung aller dazu legitimierter Volksvertreter sowie der Zivilgesellschaft behandelt werden. Ob Kontroverse als ein wertvoller Diskussionsbeitrag im Rahmen der Meinungsund Pressefreiheit und Ausfluss des demokratischen Prinzips gesehen wird oder öffentliche Diskussionen als Störfaktor interpretiert und im Keim erstickt werden.
Das einzig wirksame Korrektiv
Ob die verfassungsrechtlich vorgesehene Ausübung parlamentarischer Kontrollrechte im Untersuchungsausschuss durch ernst gemeinte Mitwirkung an der Aufklärungsarbeit ermöglicht oder durch exzessive Erinnerungslücken und öffentlich ausgetragene Kompetenzstreitigkeiten rund um die Lieferung von Beweismitteln verzögert und ausgehöhlt wird. Ob Grund- und Freiheitsrechte als höchstes Gut des Einzelnen begriffen und – wie aktuell in der Coronakrise – notwendige Eingriffe mit der verfassungsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeit vorgenommen oder warnende Expertenstimmen als „juristische Spitzfindigkeiten“abgetan werden.
Ob Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes nicht nur respektiert, sondern dessen Vorgaben auch umgesetzt werden. Ob der Rechtsstaat als verbindliches Element einer Demokratie ernst genommen und gesetzliche Grundlagen nicht als beliebig veränderbare Parameter qualifiziert werden.
Aktive Demokratiepflege verlangt eine genaue Beobachtung der Verfassungswirklichkeit in der politischen Praxis und eine Einordnung der zum Ausdruck kommenden Grundhaltung gegenüber der Bundesverfassung.
Sie ist damit ein entscheidender Indikator für den Entwicklungsgrad der demokratischen politischen Kultur im Lande und das einzig wirksame Korrektiv gegenüber demokratiegefährdenden Entwicklungen.
E-Mails an: debatte@diepresse.com
(* 3. 8. 1962) ist stellvertretende Parteivorsitzende der SPÖ, Nationalratsabgeordnete und Zweite Nationalratspräsidentin. Sie war von 2008 bis 2014 Verkehrsministerin in den Kabinetten Faymann I und II.