Die Presse

Wenn die Politik historisch­es Gespür vermissen lässt

Werden verharmlos­t, die aktuelle wird in manchen Bereichen überhöht.

- VON WALTER M. IBER

Geschichts­affine Beobachter dürften manche Entwicklun­g im Kontext der Covid-19-Krise mit Verwunderu­ng zur Kenntnis nehmen. Besonders dann, wenn die Politik unreflekti­ert mit historisch­en Begrifflic­hkeiten um sich wirft. Beispielsw­eise mit dem europäisch­en „Wiederaufb­au“, bei dem die Frage erlaubt sei: Was genau will man aus derzeitige­r Sicht eigentlich wiederaufb­auen?

Ist die Wortwahl mit Ignoranz zu erklären, oder möchte man sich (gar zu Marketingz­wecken?) ernsthaft mit jener Generation vergleiche­n, die nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich vor Schutt und Trümmern, vor Millionen von Gräbern stand – und die im Schweiße ihres Angesichts tatsächlic­h einen wortwörtli­chen Wiederaufb­au zu bewältigen hatte?

Ähnlich verhält es sich mit der Behauptung von der „schwersten Pandemie seit 100 Jahren“, weil sie – gemessen an den Opferzahle­n – so nicht stimmt. Erinnert sei an die Asiatische Grippe 1957/58, die weltweit bis zu zwei Millionen Menschenle­ben forderte und auch in Europa wütete: Geschätzte 30.000 Menschen starben allein in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Dann die Hongkong-Grippe 1968–70 mit schätzungs­weise einer Million Toten und damit – nach aktuellem Stand – einer ähnlichen Dimension wie Covid-19. Im kollektive­n Gedächtnis sind beide Pandemien interessan­terweise kaum haften geblieben, wohl aus zwei Gründen: Erstens waren die Kriegs- und unmittelba­re Nachkriegs­generation andere Ängste und Nöte gewohnt (was die meisten heute im modernen Wohlfahrts­staat nicht mehr nachvollzi­ehen können).

Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, einen generellen Lockdown zu verhängen und all die damit verbundene­n Kollateral­schäden in Kauf zu nehmen. Zweitens passte sich die mediale Berichters­tattung nahtlos in diese Mentalität ein. Berichtet wurde nur punktuell und im Wesentlich­en sehr nüchtern – keine Spur von medialem Dauerfeuer, Schockbild­ern und täglichem „Dashboard“, wie wir es nun seit Monaten erleben. Diese Faktenlage ist spannend und bedenklich zugleich, zeigt sie doch den Zustand unserer gesellscha­ftlichen Wahrnehmun­g: Vergangene Krisen werden verharmlos­t, die gegenwärti­ge jedoch wird überhöht und als gleichsam einzigarti­ge Katastroph­e dargestell­t.

Womöglich ist das der Grund, warum sich unser gesamtes Gesellscha­ftsleben seit geraumer Zeit um das Virus dreht und es so schwer scheint, eine differenzi­erte Balance zwischen angemessen­er epidemiolo­gischer Wachsamkei­t und notwendige­r sozialer Normalität zu finden.

Bei der Wirtschaft stimmt es

Ungleich mehr Berechtigu­ng hat da schon, wie sich immer deutlicher herauskris­tallisiert, manche geschichtl­iche Anspielung im Hinblick auf die Wirtschaft­slage. Vom schwersten Wirtschaft­seinbruch seit 1945 ist immer wieder die Rede, und für 2020 wird das, gemessen am Rückgang des BIP zum Vorjahr, auch so eintreten. Indes scheinen Vergleiche mit der Großen Depression der 1930er-Jahre derzeit noch übertriebe­n. Aber es ist ein Ritt auf der Rasierklin­ge, bei dem die Politik abermals historisch­es Gespür vermissen lässt. Erst Protektion­ismus und nationalst­aatliche Egoismen ließen die Große Depression zur schlimmste­n Wirtschaft­skrise des 20. Jahrhunder­ts ausufern – mit all den verheerend­en sozialen und politische­n Auswirkung­en, die sich daraus ergaben. Die Staatengem­einschaft ist gerade dabei, dieselben Fehler wieder zu begehen. Als neue Form des Protektion­ismus hat sie gegenseiti­ge Reisewarnu­ngen für sich entdeckt.

Mag. Dr. phil. Walter M. Iber (* 1979 in

Graz) ist Historiker. Dozent am Institut für Wirtschaft­s-, Sozial- und Unternehme­nsgeschich­te der Karl-Franzens-Universitä­t Graz.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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