Wenn die Politik historisches Gespür vermissen lässt
Werden verharmlost, die aktuelle wird in manchen Bereichen überhöht.
Geschichtsaffine Beobachter dürften manche Entwicklung im Kontext der Covid-19-Krise mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen. Besonders dann, wenn die Politik unreflektiert mit historischen Begrifflichkeiten um sich wirft. Beispielsweise mit dem europäischen „Wiederaufbau“, bei dem die Frage erlaubt sei: Was genau will man aus derzeitiger Sicht eigentlich wiederaufbauen?
Ist die Wortwahl mit Ignoranz zu erklären, oder möchte man sich (gar zu Marketingzwecken?) ernsthaft mit jener Generation vergleichen, die nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich vor Schutt und Trümmern, vor Millionen von Gräbern stand – und die im Schweiße ihres Angesichts tatsächlich einen wortwörtlichen Wiederaufbau zu bewältigen hatte?
Ähnlich verhält es sich mit der Behauptung von der „schwersten Pandemie seit 100 Jahren“, weil sie – gemessen an den Opferzahlen – so nicht stimmt. Erinnert sei an die Asiatische Grippe 1957/58, die weltweit bis zu zwei Millionen Menschenleben forderte und auch in Europa wütete: Geschätzte 30.000 Menschen starben allein in der Bundesrepublik Deutschland. Dann die Hongkong-Grippe 1968–70 mit schätzungsweise einer Million Toten und damit – nach aktuellem Stand – einer ähnlichen Dimension wie Covid-19. Im kollektiven Gedächtnis sind beide Pandemien interessanterweise kaum haften geblieben, wohl aus zwei Gründen: Erstens waren die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegsgeneration andere Ängste und Nöte gewohnt (was die meisten heute im modernen Wohlfahrtsstaat nicht mehr nachvollziehen können).
Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, einen generellen Lockdown zu verhängen und all die damit verbundenen Kollateralschäden in Kauf zu nehmen. Zweitens passte sich die mediale Berichterstattung nahtlos in diese Mentalität ein. Berichtet wurde nur punktuell und im Wesentlichen sehr nüchtern – keine Spur von medialem Dauerfeuer, Schockbildern und täglichem „Dashboard“, wie wir es nun seit Monaten erleben. Diese Faktenlage ist spannend und bedenklich zugleich, zeigt sie doch den Zustand unserer gesellschaftlichen Wahrnehmung: Vergangene Krisen werden verharmlost, die gegenwärtige jedoch wird überhöht und als gleichsam einzigartige Katastrophe dargestellt.
Womöglich ist das der Grund, warum sich unser gesamtes Gesellschaftsleben seit geraumer Zeit um das Virus dreht und es so schwer scheint, eine differenzierte Balance zwischen angemessener epidemiologischer Wachsamkeit und notwendiger sozialer Normalität zu finden.
Bei der Wirtschaft stimmt es
Ungleich mehr Berechtigung hat da schon, wie sich immer deutlicher herauskristallisiert, manche geschichtliche Anspielung im Hinblick auf die Wirtschaftslage. Vom schwersten Wirtschaftseinbruch seit 1945 ist immer wieder die Rede, und für 2020 wird das, gemessen am Rückgang des BIP zum Vorjahr, auch so eintreten. Indes scheinen Vergleiche mit der Großen Depression der 1930er-Jahre derzeit noch übertrieben. Aber es ist ein Ritt auf der Rasierklinge, bei dem die Politik abermals historisches Gespür vermissen lässt. Erst Protektionismus und nationalstaatliche Egoismen ließen die Große Depression zur schlimmsten Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts ausufern – mit all den verheerenden sozialen und politischen Auswirkungen, die sich daraus ergaben. Die Staatengemeinschaft ist gerade dabei, dieselben Fehler wieder zu begehen. Als neue Form des Protektionismus hat sie gegenseitige Reisewarnungen für sich entdeckt.
Mag. Dr. phil. Walter M. Iber (* 1979 in
Graz) ist Historiker. Dozent am Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz.
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