Polen und Ungarn isoliert
Rechtsstaatskrise. Das Ringen um die Prinzipien der EU lässt eine Blockade der Hilfen gegen die CoronaRezession befürchten.
Brüssel. 18 zu neun: Mit dieser Mehrheit boxten die EU-Botschafter am Mittwoch in Brüssel den Vorschlag durch, die Auszahlung der Mittel aus dem Unionshaushalt zu stoppen, wenn in einem Land der Rechtsstaat untergraben und dadurch die korrekte Verwendung dieser Gelder gefährdet ist. Ungarn und Polen wurden überstimmt – doch auch die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Österreich, Schweden, Dänemark und Finnland lehnten den deutschen Kompromissvorschlag dieser Konditionalität ab. Sie ist ihnen zu wenig griffig.
Schwammig ist auch der erste Rechtsstaatsbericht der Europäischen Kommission, den sie am gestrigen Mittwoch vorlegte – und doch zürnten Budapest und Warschau schon im Vorfeld, warfen der Kommission Parteilichkeit vor und stellten die Rechtsgrundlage für dieses Dokument infrage. Vor dem Europäischen Rat am Donnerstag und Freitag steht die Drohung einer Blockade der Corona-Aufbaumittel im Raum. „Die Presse“analysiert die Gefechtslage:
1 Was wirft die Kommission Ungarn und Polen in ihrem ersten Rechtsstaatsbericht vor?
Nichts, was nicht schon bekannt wäre, wenn auch nach Interventionen von Budapest und Warschau diplomatisch formuliert. In Ungarn gebe es nur „schrumpfende Möglichkeiten der bürgerlichen Kontrolle“, weil die Medienfreiheit eingeschränkt werde. Die Lage für zivilgesellschaftliche Organisationen sei „feindselig“. Der langjährigen Forderung der EU, die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken, sei man noch immer nicht nachgekommen. In Polen wiederum habe vor allem der politisch genehme Umbau der Obersten Gerichte „die justizielle Unabhängigkeit geschwächt“.
2 Werden sie nun beim EU-Gipfel den Haushalt und den Corona-Aufbaufonds blockieren?
Kaum. Sowohl Ungarns Ministerpräsident, Viktor Orba´n, als auch sein polnischer Amtskollege, Mateusz Morawiecki, wissen zu gut, wie stark ihre Volkswirtschaften von den Subventionen aus Brüssel abhängig sind – und zwar vor allem die ländlichen Regionen, ihre politischen Machtbastionen. Eher ist zu erwarten, dass sie versuchen wer
den, die Verknüpfung zwischen der Ausschüttung dieser Gelder und der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien noch weiter zu verwässern.
Einen Teilerfolg haben sie bereits erzielt. Denn der Vorschlag des deutschen Ratsvorsitzes sieht vor, dass jeder Mitgliedstaat eine Art Notbremse ziehen und das Vorgehen der
Kommission gegen sich aufs Tapet eines EUGipfels bringen kann.
3 Ist in Österreich in Sachen Rechtsstaat alles eitel Wonne?
Nein. Zwar lobt Brüssel, dass die „Wahrnehmung der Unabhängigkeit der Justiz hoch“sei. „Sorgen“bereite jedoch das Weisungsrecht des Justizministers in individuellen Strafverfahren. Die Ibiza-Affäre wird nicht genannt, aber sie ist gemeint, wenn die Kommission davon redet, dass Österreich „wichtige Antikorruptionsreformen in der Folge von prominenten Fällen mit Verbindung zur Parteienfinanzierung“durchführt. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft spiele eine „Schlüsselrolle“, leide aber unter umfassenden Berichtspflichten und beschränkten Ressourcen. „Risken für die Medienvielfalt“gebe es in Ermangelung eines Gesetzes über Informationsfreiheit, und auch die „relativ hohen Niveaus staatlicher Werbeinserate“würden die Sorge vor „möglicher Einflussnahme“wecken.
4 Wieso lehnen Österreich, die Benelux- und die nordischen Staaten die Konditionalität ab?
Weil sie ihnen zu schwach ist. Vor allem in den Niederlanden und bei den Nordländern verfängt das Argument, dass man nicht willens sei, in ein EU-Budget einzuzahlen, das autokratische Regime finanziert. Rechtsstaatlichkeit müsse mit dem Budget „verzahnt“werden, forderte Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) am Mittwoch.