Großes Kino oder Porno?
Kontroverse. Elfjährige Mädchen, die zu Hip-Hop ihre Hüften schwingen: Der US-Shitstorm rund um „Mignonnes“(„Cuties“) gipfelt nun in einer Klage gegen Netflix. Was taugt der Film?
Elfjährige Mädchen, die zu Hip-Hop ihre Hüften schwingen: Der US-Shitstorm rund um „Cuties“gipfelt nun in einer Klage.
In Amys Haut möchte man nicht stecken. Das elfjährige Mädchen haust in einer Sozialwohnung in der Banlieue von Paris. Eine fast dämonische alte Tante zwingt ihr archaische Sitten aus einem fremden Afrika auf. Die Mutter verzweifelt daran, dass der Vater sich gerade aus dem Senegal eine Zweitfrau holt. Das Zimmer für die Hochzeitsnacht wird dekoriert, ein Fest vorbereitet. Amy will nur noch raus. Sie schließt sich vier Mädchen an. Auf dem Schulhof gebärden sich die „Süßen“rotzfrech und rauflustig wie Burschen, im Park trainieren sie in bauchfreien Tops und hautengen Hosen für einen Tanzwettbewerb. Zu Hip-Hop-Rhythmen kreisen sie ihre Hüften, wälzen sich lasziv am Boden, strecken ihre flachen Brüste raus und halten sich scheinbar lüstern einen Finger an den Mund. So, wie sie es ständig im Internet sehen. Es gibt für sie keine Kindheit mehr, aber auch dieses gespielte Erwachsensein ist falsch, kläglich, voller Lücken und Fallen. Man sieht es Amy an: Sie fühlt sich auch hier nicht wohl in ihrer Haut.
Man möchte auch nicht mit Ma¨ımouna Doucoure´ tauschen. Erst hatte „Mignonnes“, der erste Langfilm der 35-jährigen Pariserin, nur Lob geerntet: Beim SundanceFestival gewann er den Preis für die beste Regie, auf der Berlinale einen Spezialpreis der Jury. Seit 9. September ist er auf Netflix zu sehen. Doch schon davor ging in Amerika der Shitstorm in sozialen Netzwerken los: Der Film sei ekelhaft, eine Schande, er zeige Kinderpornografie und locke Pädophile an. Die Regisseurin wird als Hure beschimpft, in die Hölle verdammt, sie erhält Morddrohungen. Eine Online-Petition mit fast einer Million Unterschriften fordert, Doucoure,´ ihr Team und die Eltern der Schauspielerinnen vor Gericht zu stellen. Und von Netflix, den Film aus dem Programm zu nehmen.
Republikanische Senatoren, darunter der sehr einflussreiche Ted Cruz, schießen sich auf den Streamingdienst ein. Hunderttausende drohen mit Boykott. Tatsächlich sind die Abbestellzahlen um das Achtfache gestiegen. Damit schafft es die Schlacht im Kulturkampf bis in die Wirtschaftsnachrichten. Vorläufiger Höhepunkt: Vorige Woche hat ein texanisches Geschworenengericht eine Klage gegen Netflix zugelassen.
Es ist ein Fall von Cancel Culture, diesmal von rechts. Es geht um Schlagworte, die das Blut vieler Trump-Anhänger zum Kochen bringen: Das Gespenst eines „pädophilen Komplotts“von linken Eliten, angeführt von den Clintons und Obamas, spukt seit Jahren durch die Hirne und Netzwerke von Verschwörungstheoretikern. Netflix gilt als pro-demokratisch, und der Sender vermarktet die Dokus von Barack und Michelle Obama. Also müssen bei „Cuties“(so lautet der englische Titel) die Alarmglocken schrillen.
Was sie anprangert, muss sie zeigen
Wie auch, in konträrer Tonart, diesseits des Atlantiks: Französische Ministerinnen verteidigen die Freiheit der Kunst. Regisseure wie Bernard Tavernier, die Brüder Dardenne und Volker Schlöndorff kritisieren die „haltlosen, karikaturhaften und unwürdigen“Attacken gegen ihre Kollegin.
Was hat das alles noch mit Doucoures´ Werk zu tun? Sie verarbeitet darin, wie sie selbst als Kind unter dem patriarchalischen Islam gelitten hat (weshalb der Film in der Türkei auch als „islamophob“verboten ist). Über das Phänomen der Hypersexualisierung hat sie sich in hunderten Gesprächen mit Jugendlichen schlau gemacht. Auch das Casting führte sie mit großer Sorgfalt durch. Fathia Youssouf spielt als Amy groß auf: Voller Frische, wahrhaftig und subtil zeigt sie die innere Zerrissenheit des Mädchens.
Natürlich muss die Regisseurin die Gefahr, die sie anprangert, auch zeigen. Aber sie tut es dezent, nicht reißerisch. Es gibt keinen Sex, niemand zeigt sich nackt. Die Szenen, in denen die Mädchen tanzen, sind sensibel gefilmt, statt auf den Hintern ruht die Kamera lieber auf den stets leicht verstörten Gesichtern. Das weckt keine Lüste, wohl auch nicht bei Pädophilen. Die meisten Online-Hetzer geben denn auch zu, den Film gar nicht gesehen zu haben. Mitschuld an der Misere hat aber das Marketing: In den USA bewarb Netflix den Film mit einem tatsächlich fragwürdigen Plakat und Begleittext. Beides zog man zwar bald zurück, und der Chef entschuldigte sich beim Publikum und der Regisseurin. Aber da war der Sturm des Hasses schon losgelassen.
Am Ende von „Mignonnes“sieht man Amy, befreit lachend, in normaler Straßenkleidung beim Seilspringen. Endlich fühlt sie sich wohl in ihrer Haut: Sie findet einen dritten Weg, der sie von ihrer Familie emanzipiert, aber Kind bleiben lässt. Zu schlicht, geschönt, naiv? Ja, vielleicht. So wie der Wunsch, dass eine talentierte Regisseurin zur Ruhe kommt und wir uns auf neue starke Filme von ihr freuen dürfen. Aber zuweilen bleibt eben nur die Hoffnung.