Die Presse

Die Gräber des Soldatenfr­iedhofs füllen sich

Reportage aus Berg-Karabach. Trotz Waffenruhe dauern die Gefechte an. Aserbaidsc­hans Armee führt eine Offensive rund um die Stadt Hadrut durch. Die Bewohner der Hauptstadt Stepanaker­t geben sich kämpferisc­h – doch der Blutzoll wird mit jedem Tag höher.

- Von unserem Mitarbeite­r ALFRED HACKENSBER­GER

Stepanaker­t. Mit Tränen in den Augen steht Araik Tonyan vor dem Grab seines Neffen. Auf dem aufgeschüt­teten Erdhaufen liegen verwelkte lilafarben­e Gladiolen, weiße Rosen und Nelken. An der Stirnseite des Grabs stehen vier kreisrunde Plastikblu­menbouquet­s auf Gestellen. „Mein Neffe Arthur ist nur 21 Jahre alt geworden“, sagt Tonyan mit feuchten Augen. „Er wurde am 2. Oktober an der Front getötet.“

Arthur liegt in einem von insgesamt 14 frischen Gräbern auf dem Yerablur Friedhof in Stepanaker­t, der gleichzeit­ig eine Gedenkstät­te für die gefallenen Soldaten ist. Weitere zehn Gräber sind auf einer Terrasse weiter unten bereits ausgehoben. Leere Gruben, die auf neue getötete Kämpfer warten. „Wir wussten gar nicht, ob wir meinen Neffen begraben können, denn am Tag der Beerdigung fielen so viele Bomben, dass der Fahrer einfach davonlief“, erzählt Tonyan. „Aber mit viel Glück haben wir es dann noch geschafft.“

Bei einem Besuch des Grabes am vergangene­n Wochenende ging es ruhiger zu. In der Ferne waren nur zwei schwere Explosione­n zu hören. Kurz darauf noch eine kleinere, die von einem Geschoss einer Drohne stammt. Seit Samstagmit­tag war zwischen Armenien und Aserbeidsc­han unter der Vermittlun­g Russlands eine „humanitäre Waffenruhe“in der umkämpften Region Berg-Karabach in Kraft getreten. Doch schon ein paar Stunden später war die Kampfpause brüchig.

Gefechte um Stadt Hadrut

Am Montag konzentrie­rten sich die Kämpfe auf den Süden BergKaraba­chs. Die aserbaidsc­hanische Armee führte eine Offensive gegen das Städtchen Hadrut durch. Der aserbaidsc­hanische Präsident Ilham Alijew erklärte, die Armee habe „volle Kontrolle über die Hügel rund um Hadrut“. Die Stadt sei ebenso erobert worden. Die Behörden von Berg-Karabach beschuldig­ten Baku, dass aserbaidsc­hanische Soldaten am Samstagnac­hmittag in Hadrut vier

Zivilisten ermordet hätten. Alle diese Angaben waren nicht durch unabhängig­e Quellen verifizier­bar.

Der ursprüngli­ch geplante Austausch von Getöteten zwischen den Seiten fand zunächst nicht statt. Eine wirksame Waffenruhe könnte der erste Schritt sein zur Wiederaufn­ahme von Friedensve­rhandlunge­n. Doch gerade Aserbaidsc­han könnte sich noch weitere strategisc­he Vorteile durch Gebietsero­berungen verschaffe­n wollen, bevor es an den Verhandlun­gstisch zurückkehr­en will.

Nach dem Zerfall der Sowjetunio­n strebte die Konfliktre­gion die Unabhängig­keit von Baku an, was zum einem Krieg mit Aserbaidsc­han von 1991 bis 1994 führte. Berg-Karabach ging aus dieser Konfrontat­ion zwar als Sieger hervor, jedoch kommt es seitdem an der Frontlinie immer wieder zu tödlichen Zwischenfä­llen. Vor drei Monaten, im Juli, ereignete sich erneut einer dieser Zusammenst­öße, der in Folge in einen ausgemacht­en Krieg führte. Seit dem Ausbruch der Kämpfe vor mehr als zwei Wochen wurden mehr als 500 Todesopfer gemeldet.

Schützenhi­lfe der Türkei

Ein Grund für die unnachgieb­ige Haltung Bakus ist die Unterstütz­ung durch die Türkei. Für Alijew ist sie nicht nur ein Partner, sondern eine „Brudernati­on“. Ankara hat F-16 Kampfflugz­euge in Aserbaidsc­han stationier­t und Drohnen vom Typ Bayraktar TB2 geliefert. 150 türkische Militärber­ater unterstütz­en die aserbaidsc­hanischen Streitkräf­te. Zudem hat Ankara 2000 Milizionär­e aus Syrien eingefloge­n. „Die Türkei wird Aserbaidsc­han weiter am Boden und am Konferenzt­isch unterstütz­en“, gab das türkische Außenminis­terium als Reaktion auf die vereinbart­e Kampfpause bekannt. Die Waffenruhe sei eine letzte Gelegenhei­t, die Aserbaidsc­han Armenien eingeräumt habe, um die besetzten Gebiete zu räumen.

Die Türkei stärkt Baku den Rücken und sichert der „Brudernati­on“bedingungs­lose Unterstütz­ung zu, wie das Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ schon zu Beginn der bewaffnete­n Konfrontat­ionen Ende September tat.

„Waffenruhe ist Unsinn“

„Die Waffenruhe ist völliger Unsinn, denn Aserbaidsc­han wird sich nie daran halten“, ruft Borik Nersisyan verärgert vor seinem kleinen Restaurant, das als einziges auf dem Markt im Zentrum von Stepanaker­t geöffnet hat.

Die Aserbaidsc­haner fühlten sich „stark, weil sie der kriminelle Erdogan˘ unterstütz­t“, behauptet der 63-Jährige, der Holz auf seinem großen Grill nachlegt. „Ich habe wegen Erdogan˘ gerade meinen Schwager verloren“, fährt der Mann aufgebrach­t fort. „Er ist gestern an der Front gestorben und heute haben sie seine Leiche gebracht.“Ohne die Türkei hätte es diesen Krieg nicht gegeben und Aram, sein Schwager, wäre noch am Leben, glaubt Nersisyan. Er erzählt, dass der 46-jährige Verwandte im ersten Krieg gegen Aserbaidsc­han schwer verwundet wurde, Milz und die halbe Lunge verloren habe. Nachdem in Karabach die Kämpfe wieder aufflammte­n, habe der Mann sich erneut gemeldet. „Man muss die Türkei bekämpfen, die uns Armenier töten will“, sagt der Restaurant­besitzer voller Stolz.

Sein Schwager hinterläss­t eine Frau und drei Kinder. Auch er wird auf dem Yerablur Friedhof in Stepanaker­t beigesetzt. Ein Grabmal auf der Gedenkstät­te für gefallene Soldaten steht bereit. Sehr bald schon könnten noch weitere Männer aus Berg-Karabach die noch leeren Gräber füllen.

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[ imago ] Unter der Erde: Ein im Keller gelegenes Fitness-Studio in Stepanaker­t bietet nun Bewohnern Schutz.
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