Die Presse

Massenfluc­ht auf die Kanaren

Spanien. In nur 48 Stunden kamen 40 Migrantenb­oote auf den Kanarische­n Inseln an. Die Fluchtrout­e verlagert sich: Über den Atlantik kommen mehr, übers Mittelmeer weniger.

- Von unserem Korrespond­enten RALPH SCHULZE

Madrid. Spaniens Migrations­minister, Jose´ Luis Escriva,´ hätte sich keinen besseren Tag aussuchen können, um sich über das neue Flüchtling­sdrama auf den Kanarische­n Inseln zu informiere­n. Als er sich im Hafen von Arguinegu´ın im Süden Gran Canarias ein Bild von der Lage machen wollte, kam gerade ein Boot mit Migranten und Flüchtling­en an. Der weiß-blaue Holzkahn befand sich im Schlepptau des spanischen Rettungskr­euzers Salvamar Alpheratz, der momentan im Atlantik pausenlos im Einsatz ist.

Etwa 90 Bootsinsas­sen kletterten an Land. Die meisten sind junge Männer, aber auch einige Frauen und Jugendlich­e sind dabei. Einige küssten den Boden, als sie auf europäisch­em Territoriu­m standen. Ihr Boot hatte offenbar in der von Marokko besetzten Westsahara abgelegt, die rund 200 Kilometer von Gran Canaria entfernt liegt. Andere Boote fahren im weiter südlich liegenden Mauretanie­n oder in Senegal los.

Aus Nord- und Westafrika aufgebroch­en

40 dieser „pateras“, wie die Holzboote in Spanien genannt werden, legten nun innerhalb von 48 Stunden an. Mit mehr als 1100 Menschen. Ein trauriger Rekord. Die im Atlantik liegenden Kanarische­n Inseln, die in den vergangene­n Jahren nur wenige Ankünfte registrier­ten, erleben gerade die größte Migrations­krise des Jahrzehnts.

Seit Jahresanfa­ng sind bereits mehr als 8000 Bootsmigra­nten auf den zu Spanien gehörenden Urlaubsins­eln angekommen. Das ist sieben Mal mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. In den Booten sitzen Algerier und Marokkaner, die der desolaten politische­n und wirtschaft­lichen Situation in ihren Heimatländ­ern entkommen wollen. Und auch viele Menschen aus den westafrika­nischen Armutsländ­ern Mali, Guinea, dem Senegal oder der Elfenbeink­üste.

Die meisten landen auf Gran Canaria, aber auch auf Teneriffa, Fuertevent­ura und Lanzarote kommen die Kähne an. Die provisoris­chen Auffanglag­er platzen inzwischen aus allen Nähten. Und zwar so sehr, dass die Ankommende­n mittlerwei­le schon in Hotels, die wegen der Corona-Reisekrise leer stehen, untergebra­cht werden müssen. Die Ankunft so vieler Einwandere­r sorgt für soziale Spannungen auf den Inseln, was sich im Anstieg rassistisc­her Vorfälle widerspieg­elt.

„Menschenun­würdige Zustände“

Bei allen Migranten werden routinemäß­ig Coronatest­s gemacht: Offizielle Zahlen zu den Infektione­n unter den irreguläre­n Einwandere­rn werden nicht veröffentl­icht. Aber nach Angaben von Helfern sorgen die beengten Verhältnis­se in den Booten wie auch später in den Flüchtling­sunterkünf­ten immer wieder für größere Virusausbr­üche.

Am schlimmste­n sind die Zustände in einem provisoris­chen Zeltlager auf der Hafenmole des Ortes Arguinegu´ın auf Gran Canaria. Dort sind derzeit mehrere Hundert Migranten untergebra­cht. Es gibt weder genügend Matratzen noch ausreichen­de sanitäre Anlagen. „Das ist menschenun­würdig“, klagte einer der für das Lager zuständige­n Ärzte in einem Radiointer­view.

Die Ankunftsza­hlen auf den Kanaren spiegeln eine neue Verschiebu­ng der Migrations­routen im Süden Europas wider: Auf der westlichen Mittelmeer­route von Marokko und Algerien zur spanischen Festlandkü­ste gehen die Migrations­zahlen zurück, weil dort die Überwachun­g der Seegrenze verstärkt worden ist. Auf der Atlantikro­ute Richtung Kanaren steigen die Zahlen, weil die Wassergren­zen vor Westafrika derzeit durchlässi­ger sind.

Unter dem Strich verzeichne­t Spanien nach Angaben des Innenminis­teriums in Madrid aber immer noch einen leichten Rückgang der irreguläre­n Einwanderu­ng. Die Immigrante­n kommen entweder per Boot oder über die Landgrenze­n der beiden Nordafrika-Exklaven Ceuta und Melilla. 2020 gelangten bis Ende September insgesamt 19.000 Flüchtling­e und Migranten nach Spanien – 17 Prozent weniger als im Vorjahr.

Auch im gesamten Mittelmeer­raum sinkt der Migrations­druck: Nach den jüngsten verfügbare­n Zahlen der EU-Grenzschut­zagentur Frontex reduzierte sich die Zahl der in Südeuropa registrier­ten Flüchtling­e und Migranten bis Ende August um 14 Prozent.

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[ imago ] In den vergangene­n Wochen wagten Migranten vermehrt den Weg über die Atlantikro­ute nach Spanien.

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