„Eine Politik der Angstmache lähmt uns“
Interview. Humor, um ernsthaft etwas zu bewegen, und Genuss, um rechtes Maß zu halten: Der Philosoph Robert Pfaller und der Theologe Paul Zulehner über den „Fresser und Säufer“Jesus, die Corona-Maßnahmen und Political Correctness.
Die Presse: Was bei Ihnen beiden auffällt, ist Ihr Humor. Dabei geht es doch in Philosophie und Theologie scheinbar furchtbar ernst zu. Wo sehen Sie die Funktion des Humors in Ihrer Arbeit?
Robert Pfaller: Er ist eine unentbehrliche Ressource des Erkenntnisgewinns. Wie schön, originell und humorvoll sind die Vergleiche in den Gründungstexten von Wissenschaften! Die Werke von Freud strotzen von prägnanten Formulierungen und lustigen Pointen. Selten haben Marxisten bemerkt, wie unglaublich witzig „Das Kapital“ist. Blaise Pascal mühte sich sehr komisch mit der Religion ab. Die Sprache der Sekundärliteratur aber verwaltet die Erkenntnis nur. Studierende werden dazu angehalten, diese Verwaltungssprache zu lernen und parasitäre Textgattungen zu fabrizieren. Das ist bedauerlich.
Paul Zulehner: Für mich ist Humor eine seelische Hygiene. Er verschafft mir Abstand zu Realitäten, die nicht gerade humorvoll sind. Die hebräische Tradition kennt einen Gott, der im Himmel über uns lacht. Auch er muss sich distanzieren, wenn er sieht, was aus seiner Welt wird. Der Witz entlastet, er sagt: Es ginge auch anders – wie im Karneval. Einem humorvollen Zugang zu trauen, könnte ein Sprungbrett in eine bessere Gesellschaft, in eine bessere Kirche sein. Humor macht uns gelassener. Ohne ihn wird man zum hart gesottenen Ideologen, mit dem man nicht mehr diskutieren kann. Rainer Nowak: Viele Menschen sind doch durchdrungen von einem Ernst, mit dem sie sich selbst erhöhen. Sie wollen schon in der Früh die Welt retten. Das könnte der Humor relativieren.
Pfaller: Wer so von sich besessen ist, rettet nicht die Welt, sondern nur sich selbst. Ein zielführendes politisches Engagement setzt voraus, dass man über sich selbst lachen kann, die eigene Belanglosigkeit einsieht – um dann Maßnahmen zu setzen, die über den eigenen Tellerrand hinausgehen.
Herr Pfaller, Sie kämpfen für den Genuss in einem „lustfeindlichen Zeitalter“. Sind Sie denn für Egoismus und Maßlosigkeit? Pfaller: Das ist ein Missverständnis. Ich habe gesagt: Man soll sich nicht maßlos mäßigen. Auch den Egoismus kann man mir nicht vorwerfen, weil ich im Genuss ein solidarisches Element sehe. Er ist eine komplexe Kulturleistung. Genuss ist uns tatsächlich oft zu anstrengend und zuwider. Er erfordert eine Überschreitung unserer Ressourcen: Wir müssen Zeit verschwenden, Dinge tun, die mit unserem Alltag nicht vereinbar sind, größer sein als wir selbst. Das schaffen wir nur, wenn wir gesellig sind. So werden wir großzügig mit uns selbst und anderen.
Herr Zulehner, ist die Kirche so leib- und lustfeindlich, wie man es ihr nachsagt? Zulehner: Jesus war ein Fresser und Säufer, das steht in der Bibel. Wenn Gott Mensch wird, ist von da an Leibfeindlichkeit verboten. Ich habe ein Patenkind, das hat mich bei einem Besuch zum Abschied gefragt: Wann kommst du wieder, damit ich dich genießen kann? Ja, wir sollen einander als Menschen solidarisch genießen – das hat dieses Kind verstanden, ohne Philosophie zu studieren. Aber: Ich zweifle, ob wir ohne Maßlosigkeit auskommen. Lacan sagt: Der Mensch ist eine Sehnsucht, die nicht in Raum und Zeit passt. Als Theologe verstehe ich das so: Wir sind als Menschen in der Lage, zum Maßlosen Gottes in ein Verhältnis zu treten, durch die Religion. Und diese Maßlosigkeit der Sehnsucht bleibt auch in säkularen Kulturen erhalten. Aber dann wird aus der Sehnsucht eine Sucht.
Erinnern wir uns an Pfallers Kritik der Anti-Tabak-Gesetze: Politiker verbieten uns eine Freude nach der anderen, Mitbürger werden nur noch als Gefährder meiner Sicherheit präsentiert. Das scheint in der Coronakrise erst recht zu gelten . . . Pfaller: Die Fälle sind nicht vergleichbar. Ich habe mich über eine detailverliebte Pseudopolitik geärgert, die uns Schockbildchen auf Zigarettenpackungen vorsetzt. Das ist eine gewaltige Verschwendung der Interventionskraft des Staates. Aber es gibt Situationen wie Corona, wo die Individuen sich selbst und andere nicht schützen können, weil ihnen die Expertise fehlt. Vielleicht auch dem Staat – selbst die Experten sind sich ja uneins, ob die Maske schützt oder schadet. Aber es ist die Aufgabe von Politikern, in solchen Situationen zu entscheiden. Nur ist es falsch, wenn sie dann so tun, als wären sie die wissenden Führer, und widersprüchliche Direktiven ausgeben. Da darf man sich nicht wundern, wenn die Leute murren und finstere Vermutungen entwickeln. Da ist viel unnötiger Ärger und Schaden entstanden.
Lähmt uns die Furcht vor dem Tod, wie Pfaller schreibt?
Zulehner: Weltweite Corona-Umfragen zeigen: Es gibt diese eklatante Furcht vor dem Tod nicht. Viel eher lähmt eine Politik der Angstmache, in der Flüchtlingskrise wie in der Pandemie. Die Fokussierung auf die Gesundheit führt nicht weiter. Eine gute Politik muss eine Balance herstellen, auch mit den
Werten der Freiheit und der Wirtschaftlichkeit. Dabei kann sie keine weiße Weste bewahren. Politiker haben ein Recht auf Fehler. Aber sie sollten jetzt, nach einem halben Jahr, die Fehler kleiner machen, durch einen Diskurs mit der Bevölkerung, mit Wissenschaftlern, Ethikern, Theologen. Diese Debatte vermissen viele. Das wäre auch eine wichtige Aufgabe für gute Medien – und besser, als die Angstpolitik zu reproduzieren. Pfaller: Schon Aristoteles hat unterschieden: Der Staat ist für das bloße Überleben entstanden, aber er ist für das gute Leben da. Für das bloße Leben kann man immer maßlose Mittel einsetzen – man kann gar nicht genug tun, damit man gesund bleibt. Der Staat muss die Bürger schützen, aber er darf diese Aufgabe nicht verabsolutieren – vor allem nicht, wenn ein Lockdown womöglich mehr Menschen umbringt als er rettet. Es hat eine starke Versuchung für Politiker bestanden, die Gefahr zu übertreiben und sich als heroische Führer zu profilieren, die wie im Krieg alle hinter sich scharen. Auch in Österreich gab es diese Rhetorik. „Bald wird jeder von Ihnen jemanden kennen, der an Corona gestorben ist“: Das finde ich unverantwortlich und unsäglich. Zulehner: Viele fürchten, dass der Krisenstaat sich an seine Potenz gewöhnt und sich nicht mehr zurücknimmt.
Nowak: Anschober hat es zu Beginn der Krise gesagt: Mit dem gleichen Arrangement, mit dem wir jetzt Schulter an Schulter gegen die Pandemie vorgehen, müssen wir dann den Klimawandel bekämpfen. Das empfinden viele als ganz gefährliche Drohung!
Herr Pfaller, Sie beklagen, dass Erwachsene nicht mehr vernünftig diskutieren, sondern sich für gekränkt erklären, von einer Bezeichnung oder Geste. Was ist so schlimm daran, wenn wir Regeln für einen respektvollen Umgang aufstellen? Pfaller: Wer seine Hoffnungen in diese Detailpolitik setzt, ist blind für ihre strukturelle Rolle – dass sie nämlich die sozialen Probleme unangetastet lässt. Es gibt auch bei uns Eltern, die sich den Schulausflug oder die Zahnspangen für ihre Kinder nicht mehr leisten können. Aber der kulturellen Elite geht es nur darum, dass man manche Gruppen so nennt und nicht so. Das ist eine gewaltige Umverteilung des Leids von unten nach oben: Die am meisten Geschädigten sind sicher nicht die, die von der Zurschaustellung ihrer Empfindlichkeit profitieren. Zulehner: Ja, es gibt ein Sprachgefängnis in der Diskussion. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit dorthin lenken, wo Leid produziert wird. Das müssen wir im System ändern, ob es um Wirtschaft oder die Zerstörung der Natur geht. Dazu dürfen wir nicht schweigen, im Namen der Menschlichkeit.